Solidarität und Corona – eine Presseschau

»In dieser Krise unbekannten Ausmaßes können wir uns glücklich schätzen, so große Solidaritätsressourcen in unserer Gesellschaft zu besitzen. Wir müssen aber ehrlich sein: Auch mit diesen Ressourcen gilt es sorgsam umzugehen und Spannungen zwischen unterschiedlichen Ansprüchen bedürftiger Gruppen fair auszuhandeln.«
Deutscher Ethikrat Pressemitteilung 04/2020

Solidarität ist ansteckend. Seit dem Beginn der Corona-Pandemie unterstützen viele Menschen einander. »Hilfsbereites und kooperatives Verhalten ist so ansteckend wie das Virus.« Die Corona-Krise könne zum Wendepunkt werden, »hin zu einer Welt, in der Kooperation und Solidarität wichtiger werden als Profitstreben.«
DIE ZEIT Nr. 37/2020 2. September 2020

Solidarität verändert keine Strukturen – widerspricht der Soziologe Wilhelm Heitmeyer

Er beobachtet in der Corona-Krise viel Gesellschaftsromantik. »Die Hoffnung, dass Solidarität zu weitreichenden Neuentwicklungen in der gesamten Gesellschaft führe, sei naiv und problematisch«, sagte er im Deutschlandfunk. »In einem kapitalistischen Staat sei das kaum möglich.«
DlF 6. April 2020

»Heute findet man – Corona sei Dank – Solidaritätsbanner an jeder Supermarktkasse, Solidaritätsadressen auf unzähligen Facebook Accounts, Solidaritätsaufrufe in täglichen Regierungs- wie Nicht-Regierungs-Erklärungen. Plötzlich wird deutlich: Solidarität kann so einfach sein! Es reicht eigentlich schon, daheim zu bleiben, sich mit sich selbst zu beschäftigen und zwischendurch einen Gutschein für die Kultureinrichtung seiner Wahl zu erwerben, einzulösen nach dem offiziell ausgerufenen Krisenende.« 
FR 12. April 2020 Kommentar Applaus und Kulturgutscheine – reicht das wirklich?

Inzwischen ist aus »Zusammenhalten« ein »Durchhalten« geworden. Alle warten auf das Impfen. Und wie steht’s um die Solidarität?

In der Corona-Anfangszeit schwappte eine Welle der Solidarität durchs Land. Diese war sogar empirisch messbar und rief eine Vielzahl lokaler Initiativen ins Leben. 

Aber was wurde aus dem großen Wir-Gefühl? Und konnten es wirklich alle teilen? fragt der Bayrische Rundfunk. 

Zusammenhalt zu Pandemie-Beginn groß

»Es ist klar: Am Anfang ist die Bereitschaft groß, weil man sieht, dass man ein gemeinsames Bestreben hat durch die Krise durchzukommen.« Ein Gefühl ähnlich wie im Flüchtlingsherbst 2015 so Dennis Snower: Zusammenhalten war das Gebot der Stunde und das ließ sich auch wissenschaftlich feststellen. Als Präsident der Global Solutions Initiative berät der Professor für Makroökonomie die G20 Staaten. 

Der gesellschaftliche Zusammenhalt in Deutschland hat sich in der Corona-Krise als robust erwiesen und ist in den ersten Monaten nach Ausbruch der Pandemie sogar noch gewachsen. Während im Februar noch vier von zehn Befragten fanden, dass sich die Menschen in Deutschland zu wenig um ihre Mitmenschen kümmern würden, waren es im Juni nur noch Zwei von Zehn, die so dachten.

Vertrauen auf die Solidarität anderer ist schnell verspielt

Gruppen und Einzelpersonen, die vorher schon am Rand standen, stehen es also in Krisenzeiten noch mehr. Corona lasse wie unter einem Brennglas bereits bestehende soziale Verwerfungen deutlicher zum Vorschein kommen, schlussfolgert die Bertelsmann-Stiftung. 

Droht da also eine weitere Spaltung, die gesellschaftlichen Zündstoff birgt? Vertrauen, ob in Medien oder politische Institutionen, sei jedenfalls schnell verloren, aber schwer zurückzugewinnen, sagt der Verhaltensökonom Michael Kosfeld von der Universität Frankfurt: »Ich verliere Vertrauen. Das geht schnell und ist asymmetrisch: Es braucht lange, um wieder aufgebaut zu werden. Letztendlich basiert Vertrauen auf positiven Erfahrungen, die bestätigt werden. Das ist im Kern ja etwas, was Vertrauen ausmacht.«

In der Pandemie seien soziale Klüfte verschärft worden und Menschen, die bereits am Rand standen, noch mehr abgehängt worden, bestätigt auch der G20-Berater Snower und will dennoch keinen Pessimismus verbreiten: »Das bedeutet noch lange nicht, dass wir machtlos sind. Wir können mit diesen Problemen umgehen, indem wir einfach schauen, dass wir diesen abgehängten Gruppen besonders gute Möglichkeiten geben, sich in den Arbeitsmarkt einzubinden, Bildung und Ausbildung zu bekommen.«

Solidarität als kollektive Lernerfahrung der Gesellschaft

Ist das vielleicht der Zusammenhalt und die Solidarität, die sich als kollektive Lernerfahrung aus der Pandemie verfestigen sollte? Ist es vielleicht nicht die Anzahl der aus Solidarität zu Hause verbrachten Stunden, die Anzahl der Balkongesänge und die Anzahl der spontanen Einkaufshilfen, Zoom-Tutorials oder die Anzahl der für einen begrenzten Zeitraum ins Altersheim geschickten Postkarten, die sich langfristig gesellschaftlich auszahlen? Und heißt gesellschaftlicher Zusammenhalt vielleicht vielmehr Teilhabe für diejenigen am Rand? Vielleicht bedeutet Solidarität, dass der Familienvater mit Migrationshintergrund in die Rentenkasse einzahlen kann. Dass seine Kinder eine Schule besuchen können. Dass Alleinstehende nicht aus Einsamkeit depressiv und letztlich arbeitsunfähig werden. Dass Alleinerziehende nicht über dem Alleinsein, der Überforderung und zu viel Verantwortung verzweifeln. Oder dass das Kind mit Behinderung und seine Familie auch in Pandemiezeiten das Gefühl haben, teilhaben zu können an dieser Gesellschaft.
BR online 7. Oktober 2020 »Eingefordert, hinterfragt, abgeschafft? Solidarität und Corona«

Solidarität und Sonderurlaub

Dazu passt auch die Meldung des Weserkuriers über die Demonstration des #ZeroCovid Bündnis in Bremen. »Beendet die Pandemiebekämpfung auf Kosten der Verletzbarsten der Gesellschaft.« fordert die Zero-Covid-Bewegung . Bezahlter Corona-Urlaub  und ein generelles Kurzarbeitsgeld von 100 Prozent: »Zu Hause bleiben kann nur, wer finanziell abgesichert ist.« Zudem dürften Firmen, die staatliche Unterstützung in Anspruch nehmen, keine Kündigungen mehr aussprechen. Bezahlt werden solle das über eine »solidarische europaweite Covid-Abgabe«, unter anderem auf Aktiengewinne und sehr hohe Einkommen.  Ein erster, notwendiger Schritt wäre es, alle Betriebe zum Testen ihrer Mitarbeiter zu verpflichten. Ausgangssperren hingegen seien nicht notwendig, stattdessen solle man lieber alle Großraumbüros schließen.
Das Bündnis wünscht sich eine »antikapitalistische Perspektive gegen die Pandemie«. Auf Plakaten heißt das »Pharma-Konzerne enteignen!« oder »Impfpatente freigeben!«
Weserkurier vom 11. April 2021

Solidarische Alternative

In Deutschland sollen Geimpfte bald Freiheiten zurückbekommen. Dabei müssen Millionen noch bis zum Ende des Sommers auf ihre Impfung warten. Es droht ein Generationenkonflikt, meint Anja Brockmann.  Sie fordert eine Solidarische Alternative.
Dabei gibt es einen anderen Weg, der solidarisch und epidemiologisch sinnvoll ist. Würde man, wie in Kanada oder Großbritannien, den Abstand zwischen erster und zweiter Impfung vergrößern, könnten bis Ende Juni alle Impfwilligen in Deutschland ihre Erstimpfung erhalten und einen sehr hohen Schutz vor dem Virus haben. Das würde die Intensivstationen massiv entlasten, Flucht-Mutationen verhindern und schneller allen zu ihren Grundrechten verhelfen.
Für diese Alternative aber braucht es eine mutige Entscheidung der Politik. Darauf darf man in Deutschland derzeit nicht wirklich hoffen. Die Jüngeren aber werden nicht vergessen, wer ihnen die Solidarität aufgekündigt hat. Und im schlimmsten Fall der Politik ganz den Rücken kehren.
DW am 10. April 2021 »Corona-Politik ohne Solidarität« 

Nachwort: Meine Blogrecherche zu Solidarität und Corona füllt inzwischen viele Seiten. Was meint eigentlich Solidarität? Und: Welchen Wert hat sie heute noch für unsere Gesellschaft? Über diese Fragen haben viele Experten in diesem Corona-Jahr geschrieben und veröffentlicht . In meinem nächsten Blogbeitrag kommen Soziologen, Politiker – und Kinder zu Wort. Sie erzählen, was sich für sie hinter dem Begriff »Solidarität« verbirgt.

Texte: Deutscher Ethikrat Pressemitteilung April 2020; DIE ZEIT Nr. 37/2020 2. September 2020; DlF 6. April 2020; FR 12. April 2020; BR online 7. Oktober 2020; Weserkurier vom 11. April 2021; DW am 10. April 2021

Gelesen und zusammengetragen: Martin Rzeppa
Fotos: Martin Rzeppa