Bundestagswahl 2021

Wofür steht die SPD? Wenn die sozialdemokratische Partei bei der anstehenden Bundestagswahl im September noch eine Rolle spielen will, wird sie um eine Antwort auf diese Frage nicht herumkommen.

Text: Gabi Schreier
8. Februar 2021, veröffentlicht w&v 01/2021

Als Peer Steinbrück im Jahr 2012 Kanzlerkandidat der SPD wurde, hat ihn der Journalist Nils Minkmar ein Jahr lang begleitet – und danach über seine Eindrücke ein Buch geschrieben. »Der Zirkus« heißt das Buch, das den Leser gleich im ersten Kapitel in die Machtzentrale der Partei befördert: das Willy-Brandt-Haus, seit 1999 Bundeszentrale der SPD. 

Dort hat Minkmar zwar »reizende, engagierte und intelligente Genossinnen und Genossen« getroffen, aber auch einen allgemeinen Webfehler ausgemacht: »Seltsame, systemische Fehlleistungen«, die es in anderen Institutionen oder Unternehmen nicht gebe.

»Es ist, als würde sich ein übermütiger Politgeist, ein Trickser, einen Jux machen«, schreibt Minkmar und berichtet von kurzfristig abgesagten Terminen mit Gesprächspartnern, die dann »verdutzt« angerufen hätten, um zu fragen, wo er denn bliebe. Oder von als »heikel und geheim« eingestuften Themen, die dann in dem von Politikern aller Parteien rege frequentierten »Café Einstein« stattfinden sollten. Minkmars ebenso nüchterne wie irritierende Diagnose: Im Willy-Brandt-Haus gebe es »verworrene Strukturen und unklare Kommunikation.«

Ein paar Jahre später hatte sich daran offenbar nur wenig geändert. In einer vom Parteivorstand nach der Bundestagswahl 2017 in Auftrag gegebenen Analyse (»Aus Fehlern lernen«) wird neben vielen anderen Verbesserungsvorschlägen auch eine »gründliche« Überarbeitung der Kommunikationsstrategie eingefordert. In der Gesamtbilanz ist in der von fünf Autoren verfassten Bestandsaufnahme von der »womöglich schwersten Krise seit 1949« die Rede. »Medial«, sei die älteste Partei Deutschlands ein »Sanierungsfall«.

Dagegen lässt sich angesichts der aktuellen Umfragewerte nur wenig sagen. Derzeit sehen die Marktforscher die SPD bei ungefähr 15 Prozent. Im Vergleich zur Bundestagswahl 2017, als die SPD auf 20,5 Prozent kam, geht die Kurve damit also weiter nach unten. Die Gründe für die Talfahrt sind vielfältig. Personalquerelen, ins Gerede gekommene Bundesminister wie Franziska Giffey, die unlängst auf öffentlichen Druck ihren Doktortitel zurückgegeben hat. Das größte Manko aber ist ein klares Profil. »Sie sind orientierungslos. Die Profilierung fehlt mir auch auf Bundesebene«, heißt es beispielsweise in einer 2015 von der parteinahen Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlichten Studie, die sich mit der »arbeitenden Mitte« in Ost- und Westdeutschland beschäftigt hat.

Aus Sicht von Politikexperten wie Arne Heise, Professor an der Universität Hamburg, schwelt das Problem schon länger. Heise hat bereits 2003 auf Einladung des Forums Demokratische Linke 21, dem linken Flügel der SPD, seine Überlegungen für ein sozialdemokratisches Markenprofil vorgestellt – viel Gehör fand er nicht.

Auf die Frage, ob es die Sozialdemokraten in der Zwischenzeit geschafft hätten, sich ein klares Profil zu erarbeiten, winkt auch Heise ab: »Nein, das ist nicht gelungen.« Einen »klaren Markenkern« könne er bei der SPD bis heute nicht erkennen.

Das klare Profil ist Geschichte

Darauf zu verzichten, ist aber keine Marginalie. Auch Parteien, macht Heise deutlich, bräuchten eine »glaubwürdige Marke«, die politisches Handeln mit »sinnstiftenden, stimmigen Assoziationen und Konnotationen« verknüpft. In früheren Zeiten ist das den Sozialdemokraten durchaus gelungen.

Kompetenz in sozialen Fragen, in der Friedenspolitik und in der Wirtschaftspolitik prägten aus Sicht von Albrecht Müller, einst Wahlkampf-Manager von Willy Brandt, über lange Jahre das öffentliche Bild der Partei. »Heute«, sagt Müller, der inzwischen das Onlinemagazin »Nachdenkseiten« betreibt und nach wie vor SPD-Mitglied ist, sei davon eben »nichts mehr übrig«. Verantwortlich dafür sei die Politik zur Jahrtausendwende. Da hätten die Sozialdemokraten mit dem »Ja« zum Kosovo-Krieg (1999) erst ihren Ruf als Friedenspartei beerdigt und später mit der von Gerhard Schröder umgesetzten »Agenda 2010« auch noch ihre Kompetenz in sozialen Fragen abgeräumt. Das wirtschaftliche Konzept der Partei habe letztlich der Hesse Hans Eichel erfolgreich »in die Tonne getreten«, der sich als Nachfolger von Oskar Lafontaine im Amt des Finanzministers das Image des »Sparkommissars« an die Brust geheftet habe und damit wichtige wirtschaftspolitische Grundsätze der SPD hinter sich ließ.

Bleibt also die Frage: Ist die SPD noch zu retten? Antwort: Ganz aussichtslos ist die Lage nicht. Die SPD habe »natürlich« noch eine Chance, macht Politikwissenschaftler Heise den Genossen Mut. Die Grundvoraussetzung: »Eine gut kommunizierte Generallinie anhand eines erneuerten Markenkerns.« Jenen sieht Heise vor allem in der sozialen Gerechtigkeit. 

»Es wäre wichtig, dass die SPD klare Aussagen zu einer sozial gerechten und ökologisch nachhaltigen Gesellschaft entwickelt.« Eines ist aus Sicht des Politikwissenschaftlers aber auch klar: Die »gesicherte Position« als zweitstärkste politische Kraft, die »dauerhaft« auf über 30 Prozent der Wählerstimmen kommt, können sich die Sozialdemokraten abschminken.

Angesichts »struktureller Verschiebungen der gesellschaftlichen Probleme im 21. Jahrhundert«, so Heise, seien Wahlergebnisse dieser Größenordnung eher unrealistisch. 

Was den Sozialdemokraten jedoch zugutekommt: Die Konkurrenz steht beim Thema Markenarbeit auch nicht besser da. Christopher Spall, Gründer und Geschäftsführer der in Nürnberg ansässigen Beratungsfirma »Spall macht Marke«, hat im Vorfeld der Bundestagswahl 2017 CDU, CSU, SPD, Grüne, Linke, FDP und AfD anhand der Kriterien Programm, Positionierung, Permanenz, Kandidat und Wahlkampagne unter die Lupe genommen. Das Ergebnis: Die stärkste Marke im Wahlkampf 2017 war die FDP, gefolgt von CSU und der Linken. Die Sozialdemokraten erreichten Platz fünf, vor der AfD und der CDU. Dass die Christsozialen nach der von Spall durchgeführten Untersuchung noch profilloser sind, hat den Genossen nichts genützt. »Die größte Stärke der CDU«, so das Fazit des Markenexperten, »war die Schwäche der SPD.« Wenn die CDU wie vor drei Jahren trotzdem die meisten Stimmen erzielt, dann liege das vor allem an Kanzlerin Angela Merkel, die laut Spall eine stärkere Zugkraft hat als die Partei selbst.

Die SPD sitzt zwischen den Stühlen

Spall sieht es im Übrigen als »Verpflichtung«, dass sich auch Parteimanager mit dem Thema Marke beschäftigen. »Menschen schließen sich anderen Menschen nur an, wenn sie sich verbunden fühlen«, argumentiert der Markenexperte. Die Basis für ein solches Verbundenheitsgefühl sei eine »auf den Punkt gebrachte Haltung«. Oder anders ausgedrückt: ein klares Markenprofil.

Im Vergleich zu Konsumgüter-Unternehmen zum Beispiel haben es Parteien dabei aber deutlich schwerer. Während etwa ein Schokoriegel-Hersteller in erster Linie für eine immer gleichbleibende Produktqualität sorgen muss, ist der Markenbildungsprozess bei einer Partei wesentlich komplexer. »Es ist nicht nur wichtig, die Frage zu beantworten, warum die Gesellschaft eine bestimmte Partei überhaupt braucht,« so Spall. Auch die interne Organisation und die führenden Köpfe der Partei müssten die erarbeitete Strategie hochhalten und glaubhaft vertreten.

Durch die Brille eines Markenberaters betrachtet, sitzt die SPD derzeit zwischen den Stühlen. »Die Partei wird eingekesselt von den Grünen und der Linken. Das Ergebnis ist ein Generalisten-Image.« Die einzige Chance der SPD bestehe darin, sich als »Spezialisten-Marke« zu profilieren und beispielsweise die sozialen Folgen des Klimawandels zu thematisieren. Oder sich bei der aktuellen Pandemiepolitik um Folgen wie das immer weiter wachsende soziale Ungleichgewicht zu kümmern.

Der Weg zu einem klaren Markenprofil ist allerdings ein langer Prozess. Für die kommende Bundestagswahl, glaubt Spall, sei es eigentlich schon zu spät. Realistischer sei es, ausgehend von einer klaren Positionierung, auf die Bundestagswahl 2025 hin zu arbeiten.

Auch die Wahlerfolge der Vergangenheit basierten auf einer langfristig geplanten Grundlage. »Wahlsiege kommen nicht über Nacht. Sie werden gemacht«, betont SPD-Urgestein Albrecht Müller. Dass die SPD 1972 so erfolgreich abgeschnitten hat, führt der versierte Wahlkämpfer auch darauf zurück, dass sich die Partei nicht hat beirren lassen. Anstatt den »Stimmungsmachern« zu folgen, habe die SPD ihre eigene Linie verfolgt.

Heute dagegen gilt nicht nur die gesamte Partei, sondern auch der Kandidat für die kommende Bundestagswahl als profillos. Schon als sich Olaf Scholz im vergangenen Jahr für den SPD-Vorsitz bewarb, flehte »Zeit Online«: »Bitte nicht«, und beschrieb den aktuellen Vizekanzler als einen Mann, dessen Strategie im »Imitieren von konservativen Hardlinern« bestehe. Die »Süddeutsche Zeitung« bezeichnete Scholz unlängst als »Kandidat mit Rucksack«. Eines lässt sich damit sagen: Als Martin Schulz Anfang 2017 zum Kanzlerkandidaten der SPD ernannt wurde, fielen Schlagzeilen und Kommentare in den Medien deutlich positiver aus.


Zusammengestellt: Michael Rasch