Der politische Slogan »Personen statt Programme« scheint durch die erstaunlichen Ergebnisse bei den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg bestätigt.

Die Landtagswahlen in Baden-Württemberg und in Rheinland-Pfalz haben einen Trend bestätigt, der seit längerem zu beobachten ist: Die Popularität der Spitzenkandidatinnen und -kandidaten kann entscheidend für den Wahlausgang sein. Ihre Akzeptanz bei den Wählerinnen und Wählern kann den Parteien, denen sie angehören, ungewöhnlich hohe Stimmenanteile einbringen.

Die Entwicklung hat sich bei diesen beiden Wahlen sogar noch zugespitzt: Während man laut Umfragen den bisher regierenden Parteien immer weniger Kompetenz in den zentralen politischen Sachfragen zutraute, erlangten sie dennoch erstaunlich hohe Stimmenanteile, offenkundig nur wegen ihrer Führungspersonen, die bisher schon als Regierungschef beziehungsweise -chefin tätig waren – mit denen die Menschen also bereits Erfahrungen machen konnten.

In der Parteienforschung werden solche Entwicklungen seit langem unter dem Stichwort »Personen statt Programme« diskutiert. Aber was genau bedeutet das? Droht eine demokratische Aushöhlung, weil sich das Wahlvolk von persönlicher Wirkung blenden lässt, anstatt ein Urteil über parteipolitische Sachkompetenz zu fällen?

In demokratischen Regierungssystemen organisieren die Parteien die politische Willensbildung. Sie treten mit politischen Programmen und Vorhaben an die Öffentlichkeit und stellen Kandidatinnen und Kandidaten für die Besetzung politischer Ämter auf. Unversehens erzeugt der prägende Einfluss von Führungspersonen ein doppeltes Problem. Einerseits beherrschen diese die innerparteilichen Entwicklungen und wirken als Aushängeschilder. Je nach Beliebtheitsgrad der Führungspersonen kann diese Prominenz der Führungsriege zum Fluch oder Segen für die Partei werden. Auf jeden Fall erzeugt sie ein fatales Abhängigkeitsverhältnis zwischen der Parteiorganisation und ihrem Personal.

Andererseits leistet die Personalisierung einer Täuschung des Wahlvolks Vorschub. Denn der Wahlakt in parlamentarischen Regierungssystemen besteht eigentlich darin, dass Abgeordnete und Parteien in die Parlamente gewählt werden, damit dort anschließend Wahlakte zur Bestellung der Regierung stattfinden können, abhängig von den Mehrheitsverhältnissen, die die Wahl hervorgebracht hat.

Heutzutage aber stehen im Wahlkampf die Kandidatinnen und Kandidaten für die Führungspositionen im Mittelpunkt. Es entsteht der falsche Eindruck, dass bei der Wahl unmittelbar über die Besetzung exekutiver Spitzenämter abgestimmt wird. Der zwischengeschaltete Wahlakt im Parlament gerät ins Hintertreffen. Das Parlament als das Repräsentationsorgan des Volkswillens wird zum Erfüllungsgehilfen herabgestuft. Die Tendenz zur Personalisierung behindert damit die programmatische Profilierung der Parteien und die Würdigung der Parlamente als Organe, in denen wichtige Entscheidungen getroffen werden, unter anderem über die Regierungsbildung.

Das passt zur Beobachtung einer schleichenden Entparlamentarisierung. Die Regierungen reißen zu viel gesetzgeberische Macht und Entscheidungshoheit an sich, während die Parlamente zu Stationen der Billigung exekutiver Entscheidungen entwertet werden. Die politischen Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung haben dafür einen drastischen Anschauungsunterricht geliefert.

Kaum ein Spielraum für alternative politische Zugänge 

Darüber hinaus kündigt sich in der gebannten öffentlichen Aufmerksamkeit für die Bestellung einer überzeugenden politischen Führungsriege eine weitreichende Veränderung der allgemeinen politischen Aufgabenstellungen an. Es zeichnet sich ein Mangel an Kontroversen über die zentralen politischen Sachfragen ab. Die Zeiten, in denen heftige und unversöhnliche Auseinandersetzungen über grundsätzliche Gesellschaftsmodelle geführt wurden und in denen man sich herzhaft über ein breites Arsenal an politischen Alternativen stritt, sind offenkundig vorüber.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts schälen sich stattdessen einige wenige politische Leitthemen heraus, die kaum mehr einen Spielraum für alternative politische Zugänge eröffnen. Zu den beherrschenden politischen Großthemen zählen die stetig wachsende soziale Ungleichheit, die Umwelt- und Klimaproblematik, der angemessene Umgang mit der weltweit gestiegenen Migration, sowie elementare Fragen der Bildungspolitik, der Technologieentwicklung, der Lebensverhältnisse und der Infrastruktur vor allem in den Ballungsräumen. Die Möglichkeiten, den genannten Herausforderungen zu begegnen, entziehen sich weitgehend einer ideologischen Interpretationsoffenheit. Die Unterschiede der parteipolitischen Positionen zu diesen grundlegenden Herausforderungen schwinden deshalb beträchtlich.

Der einstmals leidenschaftlich betriebene Parteienstreit verblasst. Keine Partei hat zu den genannten Großthemen unnachahmliche Lösungen anzubieten. Gleichzeitig kann es keine Partei mehr wagen, sich der Auseinandersetzung mit diesen zentralen Herausforderungen schlicht zu verweigern und sich ganz anderen Themen zu verschreiben. Die politischen Parteien können somit kaum mehr von der Originalität ihrer Anliegen oder von der Besonderheit ihrer Adressaten zehren. Sie sind zum standardisierten Angebot rascher Lösungskonzepte für drängende Menschheitsfragen verdammt, links wie auch rechts, aber vor allem in einer ideologiefreien Mitte, um die sie sich nunmehr zwangsläufig scharen.

Nebenbei erklärt sich damit auch der beachtliche Erfolg von Parteien mit dem Etikett »Freie Wähler« sowie von unabhängigen Kandidatinnen und Kandidaten bei politischen Wahlen auf lokaler und regionaler Ebene. Nicht mehr die besonders profilierte Parteiprogrammatik bringt Zuspruch, sondern die vom programmatischen Ballast befreite Entschlossenheit, Probleme zu lösen.

Nur vereinzelt wird aus dem Ideal politische Realität

Die Dominanz der Großthemen hat erhebliche Auswirkungen auf die Rolle des politischen Führungspersonals. Dessen Eignung zum Regieren bemisst sich kaum mehr an der programmatischen Standfestigkeit der Person, sondern vermehrt an dem Grad sehr allgemeiner politischer Kompetenzen, die ein solides Krisenmanagement in Aussicht stellen: Es zählt ein allgemeines politisches Verantwortungsbewusstsein in Verbindung mit wacher, schneller Reaktionsbereitschaft sowie mit Achtsamkeit und Augenmaß. Eine möglichst umfassende Sachkenntnis spielt eine Rolle, aber auch die pragmatische Lösungsorientierung, die ausgeprägte Empfindsamkeit für öffentliche Stimmungslagen sowie das Verhandlungsgeschick und die Kompromissbereitschaft. All das soll verbunden sein mit einer allgemein verständlichen Sprachmächtigkeit, mit einer volksnahen Zugänglichkeit sowie mit ansprechenden Charaktereigenschaften, die auf Robustheit, Festigkeit, Ausgeglichenheit und Mäßigung deuten.

Das politische Personal muss der Bevölkerung auf der Basis solcher allgemeinen Kompetenzen vertrauenswürdig erscheinen, dann wird unversehens die Parteizugehörigkeit nebensächlich. Persönlichkeiten, die diesen Erwartungen entsprechen, kann man deshalb zwar selten, aber doch in fast allen politischen Lagern finden.

In der Personalisierung der Politik zeigen sich freilich nicht nur verengte Handlungsspielräume sowie standardisierte Persönlichkeitsbilder. Darin eröffnet sich auch eine demokratische Chance. Die Eignung für politische Führungsaufgaben leitet sich weniger aus Eigenschaften und Verhaltensweisen her, die vom programmatischen Eifer und von der ideologischen Profilierung zehren. Es zählt mehr die persönliche Überzeugungskraft, zur Bewältigung großer politischer Aufgaben beitragen zu können, die alle betreffen.

Damit erweitert sich der repräsentative Auftrag, den die entsprechende Person erfüllt. Sie ist nicht länger Fürsprecherin besonderer Interessen und Anliegen, sondern leistet ihren Dienst für ein kaum mehr umstrittenes Gemeinwohl. Das herausgehobene Amt gewinnt so an volksnaher Bodenhaftung. Dessen Träger oder Trägerin, auf eine überzeugende Führung bedacht, stilisiert sich selbst zum oder zur Angehörigen eines idealisierten Volkes. Und wartet dabei mit einer allgemeinen Kompetenz auf, die man jeder Führungsperson abverlangen würde, auch außerhalb der Politik: Sie zeigt Umsicht und Fürsorge, sie strahlt Zuversicht aus, sie hört zu, sie wirkt ausgleichend und kompromissbereit, sie bringt Integrationsfähigkeit zum Ausdruck und bemüht sich, alle Schritte eines manchmal unverständlichen Regierens öffentlich gut zu begründen.

Das sind auch Eigenschaften, die sich fast jeder für sein eigenes Selbstbild wünscht – jenseits von parteipolitischen Präferenzen. Insofern bietet die entsprechend auftretende politische Führungsperson attraktive Identifikationsangebote und Projektionsflächen für selbst erstrebte Handlungs- und Verhaltensmuster. Sie überträgt das Ideal der Selbstwirksamkeit auf ihre Wählerklientel. Wer sich davon mitreißen lässt, gewinnt zumindest ansatzweise den Eindruck, das Volk regiere sich selbst, verkörpert in der Gestalt der allseits akzeptablen Führungsfigur. Diese symbolische Selbstregierung ist immerhin der Urimpuls der Demokratie.

Bei alledem handelt es sich natürlich um idealisierte Beziehungsmuster. Nur vereinzelt wird aus dem Ideal politische Realität. Selbstverständlich gibt es auch Gegenbeispiele. Immer können hinter einer vordergründig überzeugenden Führungskompetenz eine publikumswirksame Verstellung, unlautere Absichten oder demagogische Verführungskünste erkennbar werden.

Angesichts der beeindruckenden und gehäuften Wahlerfolge von Spitzenkandidatinnen und -kandidaten mit dem Nimbus der Überparteilichkeit taugen solche Kompetenzprofile zumindest als »role model« für das politische Personal, das in seinem Wirken nicht nur beständig nach öffentlicher Anerkennung für sein Handeln strebt, sondern auch sehr handfest wiedergewählt werden möchte. Die Personalisierung der Politik ist demnach ein schillerndes Phänomen, das in mancherlei Hinsicht bedenklich erscheint, aber im besten Fall einen kleinen demokratischen Gewinn verspricht: mehr unverstellte Nähe zwischen dem Volk und seinen politischen Repräsentanten. 

Der Autor Emanuel Richter
ist emeritierter Professor für Politische Wissenschaft an der RWTH Aachen.
Aus »Frankfurter Rundschau« vom 26. März 2021