»Menschen, von denen bis vor Kurzem noch niemand gehört hat, haben plötzlich mehrere Tausend Follower – weil sie ihr Leben für andere öffnen. Ich halte das gar nicht für etwas Schlechtes. Das sind neu entstandene Räume des Austauschs, die von jungen Menschen teils clever genutzt und geformt werden.« Meint der Kunstwissenschaftler Florian Flömer im Interview des Weser-Kuriers. Darum geht es: Seit wann gibt es Selfies? Selbstdarstellung oder Kommunikation? Sind Selfies Kunst? Ist ein Ende der Selfie-Ära in Sicht?

»Bilder für den Augenblick«: Der Kunstwissenschaftler Florian Flömer spricht über Selfies, vermeintliche Nähe und frühe Selbstporträts mit Katharina Frohne (Weser-Kurier) anlässlich der Veranstaltung  im Paula-Modersohn-Becker-Museum über »Selfies heute – Selbstporträts gestern?« Hier das Interview in Auszügen.

Die deutschen Zwillinge Lisa und Lena etwa: Youtuberinnen, Instagram-Nutzerinnen, exzessive Selfie-Posterinnen – mit 15 Millionen Followern. Wundert Sie das?
Nein – aber auf Menschen, die diese Plattformen nicht derart selbstverständlich nutzen, wirkt das sicherlich erst mal komisch. Man fragt sich: Welche Eigenleistung bringen die eigentlich? Ich denke, die Frage ist falsch gestellt. Innerhalb der Kanäle selbst lässt sich eine wahnsinnige Aufmerksamkeit generieren. Menschen, von denen bis vor Kurzem noch niemand gehört hat, haben plötzlich mehrere Tausend Follower – weil sie ihr Leben für andere öffnen. Ich halte das gar nicht für etwas Schlechtes. Das sind neu entstandene Räume des Austauschs, die von jungen Menschen teils clever genutzt und geformt werden.

Ziel ist also nicht Selbstdarstellung, sondern Kommunikation? 
Ja. Sicherlich geht es auch um Selbstinszenierung, aber nicht in erster Linie. Gerade jungen Menschen mit vielen Followern wird oft vorgeworfen, selbstfixiert und narzisstisch zu sein – und natürlich kann das zutreffen. Ich glaube aber, dass es vor allem darum geht, sich zu äußern, und zwar so schnell, spontan und unmittelbar, wie es vor wenigen Jahren noch undenkbar war.

Gehen wir da noch einmal einen Schritt zurück: Seit wann gibt es Selfies?
Seit etwa zehn Jahren. Anfang der 2010er-Jahre kamen Smartphones mit halbwegs guten Kameras auf den Markt, die Leute fingen an, ihren Alltag zu dokumentieren. Das ging natürlich auch schon vorher: Per Digitalkamera konnten Fotos gemacht, auf den Rechner geladen und per E-Mail verschickt werden. Das dauerte aber. Heute sind die Bilder in wenigen Sekunden online oder auf dem Smartphone eines Freundes. Selfies dienen kommunikativen Zwecken – weil sie sich immer, überall und sofort versenden lassen.

Es geht also nicht darum, sich selbst vor den Pyramiden von Gizeh für die Nachwelt festzuhalten, sondern andere wissen zu lassen: Guck mal, da bin ich?
Genau. Guck mal, da bin ich, im Urlaub in Ägypten oder im Museum, neben meinem Lieblingsgemälde von Francis Bacon. Der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich spricht von Status-Meldungen; man informiert andere über seinen Aufenthaltsort, seine Stimmung, seine Begleitung.

Ist aber nicht immer auch Ziel, eine Rückmeldung zu bekommen? Ein Like, ein Herz, einen Kommentar?
Natürlich – das ist Teil der Kommunikation.

Dass der Mensch Selbstbildnisse macht, ist dabei nichts Neues…
Nein, die ersten Selbstporträts entstanden vor etwa 500 Jahren. 1433 malte Jan van Eyck das „Porträt des Mannes mit dem Turban“, das als Selbstbildnis angesehen werden kann. Albrecht Dürers „Selbstbildnis im Pelzrock“ stammt von 1500. Diese Gemälde wurden allerdings zu ganz anderen Zwecken angefertigt.

Nämlich?
Zum einen dienten sie dazu, Können zu demonstrieren. Der italienische Maler Francesco Mazzola hat sich 1523 oder 1524 vor einem gewölbten Spiegel gemalt – sicherlich auch, um zu zeigen, dass er imstande ist, eine so verzerrte Perspektive abzubilden. Vor allem aber ging es darum, etwas festzuhalten, das andernfalls nicht überliefert worden wäre. Die Bilder waren darauf angelegt, die Zeit zu überdauern.

Durch die Selfie-Massen von heute wird sich in 500 Jahren also eher kein Kunsthistoriker wühlen?
Das bezweifle ich allein deshalb, da die große Mehrheit der Selfies nirgendwo verwahrt werden wird. Selfies sind Bilder für den Augenblick, sie werden gemacht, verschickt, gepostet, wieder gelöscht. Man könnte sagen, Selfies haben eine extrem kurze Halbwertszeit.

Wären sie es denn wert? Oder anders gefragt: Sind Selfies Kunst?
Ich sehe das so: Ein Selfie an sich ist kein Kunstwerk, sondern erst einmal nicht mehr als ein Foto. Es hat gar nicht den Anspruch darauf, einen ästhetischen Wert zu haben. Es gibt aber durchaus Künstler, die das Medium für sich entdeckt haben und nutzen. Von Ai Weiwei etwa wurden im Sommer Selfies in der Kunstsammlung NRW präsentiert, die er als politische Botschaften verstanden hat. Sie zeigen, wie er durch das chinesische Regime unterdrückt wurde, wie die Polizei ihn behandelt hat. Cindy Sherman, die im vergangenen Jahr in der Weserburg ausgestellt hat, hat einen Instagram-Kanal, den sie mit Selfies bespielt. Als Kunstwissenschaftler finde ich das sehr spannend.

Weil da Populärkultur in die Kunst schwappt?
Ja – weil alltägliche Praktiken von Künstlern übernommen, abgewandelt und kreativ genutzt werden. Es macht Spaß, zu beobachten, was sich daraus ergibt.

Viele sagen: Die Selfie-Flut nervt. Ist ein Ende der Selfie-Ära in Sicht?
Nein. Allein schon, weil es immer neue Trends geben wird, neue App-Filter, neue beliebte Posen. Das Selfie wird bleiben.

Text: Katharina Frohne (Weser-Kurier) 6.11.2019
Foto: V. Melnyk (Weser-Kurier) 6.11.2019
Erstellt von Martin Rzeppa