Leo 2018 ist da. Ziel der Untersuchung ist es, »die aktuelle Größenordnung des Phänomens geringer Lese- und Schreibkompetenz unter Erwachsenen zu erfassen.« 
Funktionaler Analphabetismus – so wurde bisher beschrieben, »wenn eine Person nicht in der Lage ist, aus einem einfachen Text eine oder mehrere direkt enthaltene Informationen sinnerfassend zu lesen« oder auf einem gleichen Kompetenzniveau zu schreiben. Heute heißt es »geringe Literalität«. 
Über das Wer, Warum und Was folgt aus der Untersuchung habe ich mit dem Sozialwissenschaftler Meinhard Motzko aus Bremen gesprochen. Er forscht zu diesem Thema und berät Träger und Beschäftigte von Bibliotheken.

Was hat Leo 2018 herausgefunden?
Meinhard Motzko: Jeder achte Erwachsene kann nur auf einer niedrigen Kompetenzstufe lesen und schreiben. Das ist zwar eine Verbesserung gegenüber 2010, dennoch sind das immerhin 6,2 Millionen Menschen. 
»Geringe Literalität« bedeutet, das auch einfache Texte nicht sinnverstehend gelesen werden können und beispielsweise auch einfache Arbeitsanweisungen nicht verstanden werden. 
Das fällt besonders auf: Der Anteil der Männer beträgt 58,4 Prozent. »Gering Literalisierte« gibt es zwar in alle Altersgruppen, aber am stärksten sind hier 46 bis 55 Jährige vertreten – mit 25,2 Prozent.   
Über die Hälfte der »gering Literalisierten« haben als Herkunftssprache Deutsch, das Problem ist also nachweislich kein »Migrantenproblem«. 
Und die größte Überraschung ist wohl, das 16,9 Prozent der »gering Literalisierten« Abitur haben. Lesen und Schreiben kann man ganz offensichtlich wieder verlernen, wenn man es nicht regelmäßig trainiert. 
Fast zwei Drittel der Betroffenen sind erwerbstätig. Der Anteil  Arbeiter*innen ist dabei drei mal so hoch wie der Anteil an der Gesamtbevölkerung. Und verwundert es nicht, dass nur die Hälfte der »gering Literalisierten« regelmäßig einen Computer mit Internetzugang nutzt und auch nur ein Drittel regelmäßig E-Mails schreibt. Diese Menschen werden «digital abgehängt«.

Woher kommt das?
Meinhard Motzko: Das Sprachzentrum im Gehirn entwickelt sich im Alter von 0 bis 3 Jahren mit der Synapsenbildung. Wenn in diesem Alter kaum Anlässe zum selber sprechen angeregt werden und stattdessen sogar beim Stillen noch auf dem Smartphone »gedaddelt« wird. Oder die Glotze immer läuft, kann sich keine Sprachkompetenz entwickeln. Hier sind die Kinder fast vollständig ihren Eltern »ausgeliefert«. Nur 20 Prozent der Kinder in den westlichen Bundesländern werden in Kinderkrippen betreut.

Wenn die Kinder in den Kindergarten kommen ist es für die Synapsenbildung im Sprachzentrum zu spät. Das zeigt sich dann auch bei den Einschulungsuntersuchungen: 23 Prozent aller Kinder – mit großen regionalen Unterschieden – haben hier ärztlich diagnostizierten Sprachförderbedarf. 
Das zeigt der Bundesbildungsbericht auf. Sie können einem Unterricht nicht folgen. Der Wortschatz ist viel zu gering und auch grammatikalische Grundlagen fehlen. Und das ist kaum zu reparieren – auch nicht mit teuren und aufwendigen Sprachförderprogrammen. 
Am Ende der Grundschulzeit zeigt sich: Wer denkt, die Hauptaufgabe der Grundschulen wäre die Vermittlung von Lesen, Schreiben und Rechnen, der irrt gewaltig. Die letzte IQB Studie von 2016 wies nach, dass 12,5 Prozent aller Schüler am Ende der 4. Klasse den Regelstandard im Lesen nicht erreichen. 22,1 Prozent können nicht Schreiben und 15,4 Prozent nicht Rechnen – mit großen Unterschieden in den Bundesländern. 
Und das wird dann auch im späteren Schul- und Berufsleben nicht besser. Wie sollte es auch? Die neuen digitalen Medien tun ein Übriges dazu: Siri und Alexa beantworten viele Fragen und »barrierefreie Internetseiten« können auch vorlesen. Die Informationswelt wechselt vom Wort und Schrift zu Bildern, Piktogrammen und Videos. Jedes Smartphone macht gute Fotos oder Filme und Sprachnachrichten. Wozu dann noch mühsam lesen und schreiben lernen? Es geht auch ohne.

Was also tun? 
Meinhard Motzko: Wir müssen das Problem von unten her lösen. Hauptansatzpunkt müssen die Kinder von 0 bis 3 Jahren sein. Und hier beginnt das Dilemma: Es gibt keine »zuständige Institution« für diese Altersgruppe – von den Krippen mal abgesehen – aber es gibt ja keine »Krippenpflicht«. Werdende Eltern müssen also viel intensiver über die Zusammenhänge der Sprachbildung aufgeklärt werden. Das gehört in jeden Geburtsvorbereitungslehrgang, in jede Kinderarztpraxis, in die Kindersendungen im Fernsehen usw. 
Die wenigen öffentlichen Einrichtungen, die sich um Sprach- und Lesekompetenz kümmern – wie beispielsweise Bibliotheken – müssen sich viel intensiver der Zielgruppe der 0 bis 3 jährigen zuwenden – das tun sie auch zunehmend. Und da diese Kleinkinder nicht selbst angekrabbelt kommen, gehören zur Zielgruppe dann eben auch die begleitenden Eltern – meist Mütter – und immer mehr auch Großeltern oder ältere Geschwister. 

Selbstverständlich  kann man Lesen und Schreiben auch noch im Erwachsenenalter lernen. Und da kommen die Betriebe ins Spiel: Werden bei Einstellungen Lesen und Schreiben überhaupt getestet? Und wenn da jemand auffällt: Was ist dann die Reaktion? Gleich Absage oder vielleicht doch ein Hilfsangebot?
Kümmern sich Betriebs- und Personalräte überhaupt um dieses Problem? Ist mir nicht bekannt. Oder es wird lieber totgeschwiegen und die Botschaft scheint zu lauten: Bloß nicht erwischen lassen. 
Dabei wäre es doch gar nicht schwierig: Fast jede Volkshochschule hat hier passgenaue Angebote und eine unaufgeregte Zuarbeit der Betriebe würde es ihnen erleichtern, ihre Zielgruppe zu finden.

Danke für das Gespräch.

Leben mit geringer Literalität

Hier erfährt man mehr zu der Studie Leo 2018:
https://lecture2go.uni-hamburg.de/l2go/-/get/v/24578
Hier gibt es Informationen zu Meinhard Motzko: 
www.praxisinstitut.de


Text: Martin Rzeppa
Foto: Reinhard Motzko