Generell wünscht sich eine große Mehrheit (85 Prozent) der Beschäftigten, auch zukünftig regelmäßig von zu Hause aus arbeiten zu können. Das hat die Beschäftigtenbefragung 2020 der IG Metall ergeben: »Homeoffice als neue Massenerfahrung«. Reklamiert wird allerdings auch, dass zahlreiche Aspekte grundsätzlich gar nicht oder nicht hinreichend geregelt sind. Der Arbeitsrechtler Georg Annuß fragt nach politischen Prozessen und Gemeinschaft in Unternehmen und Gesellschaft: Wie viel Vereinzelung wollen wir in der Arbeitsorganisation zulassen? »Der Zugang zu Beschäftigten im Homeoffice stellt für Gewerkschaften … eine nicht unwesentliche organisationspolitische Herausforderung dar,« weiss die IG Metall. Und Betriebsräte spüren bereits nach eineinhalb Jahren Corona-Abstand, wie die Bindung zu ihren Kolleg:innen nachlässt. 

Homeoffice als neue Massenerfahrung

Keinen signifikanten Unterschied macht es, ob im eigenen Haushalt Kinder unter 14 Jahren oder pflegebedürftige Angehörige leben. Das ist ein Ergebnis der IG Metall Beschäftigtenbefragung 2020.

Über die Hälfte der Befragten arbeitete ganz oder zeitweise in Homeoffice, fast ein Viertel der Befragten erstmals und nur wegen Corona. Und mehr als jede*r vierte Beschäftigte tat dies in höherem Umfang als vorher. 

Frauen haben in deutlich größerem Umfang ganz oder zeitweise in Homeoffice gearbeitet als Männer. Frauen arbeiten häufiger in den indirekten Bereichen, in denen Homeoffice grundsätzlich leichter umzusetzen ist.

Die Mehrheit der Befragten freundete sich trotz aller Widrigkeiten mit der neuen Situation an. Die Erfahrungen verdeutlichen, dass mobiles Arbeiten bzw. Arbeiten im Homeoffice von einer sehr großen Mehrheit der Beschäftigten gewünscht und geschätzt wird. Die meisten Beschäftigten geben an, gut bzw. eher gut zwischen Arbeit und Freizeit trennen zu können (69 Prozent).

Knapp ein Fünftel der Beschäftigten kann zugleich kaum bzw. nicht abschätzen, ob die eigene Leistung im Homeoffice durch Kolleg*innen und Vorgesetzte anerkannt wird. Klar muss auch deshalb sein: Arbeiten im Homeoffice muss zu den gleichen fairen und transparenten Bedingungen stattfinden wie im Betrieb. 

Wichtig bleibt zudem: Auch Arbeit zu Hause muss gute, gesunde Arbeit sein. Ob Arbeits- und Gesundheitsschutz, Arbeitszeiten, fehlender Versicherungsschutz oder die Finanzierung adäquater Büroausstattung – zahlreiche Aspekte sind grundsätzlich gar nicht oder nicht hinreichend geregelt. 

Wie viel Homeoffice wollen wir in der Gesellschaft zulassen?

»Wenn alle Zuhause arbeiten, ist es doch gut – ist es das wirklich?« fragt Arbeitsrechtler Georg Annuß. Er berät Vorstände, Geschäftsführer und Führungskräfte in großen Konzernen. In der »Thema« Ausgabe von Brand eins Heft 20 Mai/Juli 2021 habe ich diesen interessanten Beitrag gefunden.

»Wie viel Vereinzelung wollen wir in der Arbeitsorganisation zulassen? Das ist eine Frage, die in erster Linie politisch, nicht innerhalb der Unternehmen zu entscheiden ist. Wie viel Homeoffice wollen wir in der Gesellschaft zulassen?« 

Für Annuß geht es um mehr als Arbeitszeit oder Mitarbeiterbindung. »Wenn die Unternehmen als Kristallisationspunkte für die Ausbildung von Gemeinschaft, auch für die Einübung sozialer Praktiken wegfallen, wie lernen wir das dann noch – und welche Folgen ergeben sich daraus für die Gesellschaft?«

Das Verwischen von Sphären, die ständige Erreichbarkeit, die auch immer  häufiger erwartet werde, lasse den Zusammenhalt erodieren, in den Firmen und ausserhalb. »Die Entgrenzung von Arbeit und Privatleben führe zu immer mehr Ungleichzeitigkeit. Es wird immer schwerer, sich zu treffen und Gemeinschaft zu schaffen,« sagt Annuß. 

Als Berater der Konzerne registriert er, dass viele das Homeoffice begrüßen, weil sie die Vorteile sehen. Er versteht auch, dass sie primär an den Gewinn denken, an ihre Aktionäre, an die Zwänge des Marktes . Nur sei das eben nicht gottgegeben, sondern Ausdruck einer Wertung, einer Entscheidung.

»Müssen wir, um die politische Gemeinschaft zu erhalten, den politischen Prozess in den Unternehmen stärken?“ Heute verbrächten viele einen Großteil ihres Lebens in streng hierarchischen Strukturen. »Wenn Menschen trainiert werden, über Anordnungsmacht zu funktionieren, wie übt man diese Menschen in unserem politischen Prozess, der doch ganz anders funktioniert?«

»Wäre vielleicht eine Binnengestaltung der Unternehmen sinnvoll, die genau anders läuft als das, was wir heute sehen – die nicht immer weiter in die Vereinzelung führt, sondern bewusst Räume des sozialen Miteinanders schafft?« Annuß hofft, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Debatte ums Homeoffice zum Anlass nehmen, neu zu denken.

Schaubild: aus IG Metall Beschäftigtenbefragung 2020. Homeoffice als neue Massenerfahrung
Texte: aus IG Metall Homeoffice als neue Massenerfahrung
aus brand eins / thema Heft 20 Mai/Juli 2021
Zusammengestellt von: Martin Rzeppa