Eine typische Betriebsversammlung irgendwo in Deutschland:
Der Betriebsratsvorsitzende Helmut Müller eröffnet ein wenig hölzern um 9.30 Uhr die sechste Betriebsversammlung der Wahlperiode 2014 –2018. Er erzählt, dass seit der letzten Betriebsversammlung, der fünften, wie er sagt, 17 Betriebsratssitzungen stattgefunden haben, 22 Betriebsausschusssitzungen, eine Wirtschaftsausschusssitzung und zwei Sitzungen des Arbeitssicherheitsausschusses, dann nennt er die wichtigsten Beschlüsse. Der Bericht wird getragen von seinem ehrlichen Bestreben, gründlich und möglichst vollständig Rechenschaft abzulegen. Das ist sein Anspruch und so sagt es auch das Betriebsverfassungsgesetz.
Die Reaktion des Publikums?
Die meisten Produktionsmitarbeiter sind seit 5.45 Uhr im Betrieb und ihre Lider werden merklich schwerer. Einige nicken ein. Ein großer Teil der Angestellten ist gar nicht erst erschienen. Denjenigen, die erschienen sind, machen die Luft im Versammlungsraum und der bürokratische Ablauf zu schaffen. Nach dem Bericht folgt ein PowerPoint-Vortrag, der zu textlastig und nur in den vorderen Sitzreihen zu lesen ist. Spätestens nach 15 Minuten sind nur noch zehn Prozent des Publikums aufmerksam dabei.
Muss das so sein? Nein.
Gegen solche Veranstaltungen gibt es zwei Heilmittel – und diese lassen sich in idealer Weise kombinieren. Das erste ist: Aus der Perspektive der Zuhörer sprechen. Also erzählt nicht, was der Betriebsrat getan hat, sondern, was es den Beschäftigten gebracht hat. Übersetzt eure Arbeit in Nutzen für die Belegschaft. Denn der Wurm muss ja bekanntlich nicht dem Angler schmecken…
Das zweite Heilmittel – und um dieses wird es im Weiteren gehen – ist Beteiligung. Passives Zuhören ist anstrengend, langweilig, und viel hängen bleibt auch nicht. Visuelle Unterstützung hilft ein wenig, aber sprunghaft steigt die Aufmerksamkeit an, wenn die Zuhörer aktiv werden. Und das erreicht ihr am einfachsten, indem ihr sie beteiligt.
Für die wichtigsten Versammlungen zeigt das Beteiligungsprojekt der IG Metall gute Lösungen auf. Diese sind bei erfolgreichen Betriebsräten abgeguckt und teilweise von uns weiterentwickelt worden. Mittlerweile sind sie vielfach erprobt. Es funktioniert also. Wie, das wird im Folgenden erklärt.
Beteiligungsorientierte Betriebsversammlung
In einem (fiktiven) Betrieb mit 300 Beschäftigten besuchen 220 die Betriebsversammlung. Der Betriebsrat, bestehend aus neun Mitgliedern, bereitet vier Themen vor, die mit den Beschäftigten diskutiert werden sollen.
Zur Vorbereitung werden die einzelnen Berichtspunkte, beispielsweise das neue Schichtsystem, auf einer Metaplanwand vorbereitet und zwar so, dass Nutzen und Nachteile für die Beschäftigten leicht zu erkennen sind. Die Metaplanwände werden im Uhrzeigersinn nummeriert.
Beim Einlass zur Versammlung bekommt jeder Beschäftigte eine Karte mit einer Nummer von eins bis vier und wird gebeten, sich vor der entsprechend nummerierten Metaplanwand einzufinden.
Jeweils zwei Betriebsratsmitglieder präsentieren dann in ungefähr fünf Minuten das jeweilige Thema, danach können die Beschäftigten Fragen stellen und ihre Meinung äußern. Nach 15 Minuten geht es im Uhrzeigersinn weiter zur nächsten Wand.
Und was macht ihr mit dem Bericht des Gewerkschaftssekretärs?
Auch er kriegt, wenn er möchte, eine Metaplan-Wand. Und aus meiner Erfahrung kann ich berichten, dass die tollsten und auch erfolgreichsten Versammlungen die waren, bei denen die gesamte Belegschaft in Kleingruppen vor meiner Stellwand stand.
Einige gehen rauchen und nehmen nicht teil. Aber auch das hat seine gute Seite. Die reden beim Rauchen nämlich über die Stellwände, die sie gesehen haben, und diskutieren untereinander.
Und die anderen Berichtspunkte?
Seien wir mal ehrlich, es gibt immer Punkte, über die nicht berichtet wird. Also Mut zur Lücke. Wenn ihr diesen Mut bei der ersten Versammlung dieser Art noch nicht aufbringt, macht eine Wand im Eingangsbereich, auf der die anderen Punkte visualisiert werden.
In eurem Betrieb sind sehr viel mehr Beschäftigte?
Ihr könnt diese Methode natürlich auch auf große Betriebsversammlungen erweitern. Allerdings gibt es dabei einiges mehr zu berücksichtigen, beispielsweise, ob ihr geeignete Räume dafür habt.
Vom Umgang mit großen Gruppen
Im Grunde gibt es vier Möglichkeiten, eine große Versammlung durchzuführen und die Beschäftigten mehr zu beteiligen:
a) ihr behaltet die Versammlung in der Großgruppe bei und führt sie konventionell durch,
b) ihr arbeitet mit Methoden der Großgruppenmoderation,
c) ihr spaltet sie in Teilversammlungen (z. B. Abteilungsversammlungen) auf oder
d) ihr arbeitet mit einer repräsentativen Teilgruppe oder inhaltlich ausgewählten Teilgruppen, weil z. B. eine Open Space Betriebsversammlung zwar noch mit 500, aber nicht mehr mit 5.000 Beschäftigten funktioniert.
Wie mehr Beteiligung möglich wird, trotz konventioneller Durchführung der Versammlung, wird hier beschrieben. Und wenn ihr Fragen zu den anderen Verfahren habt oder Informationen braucht, freuen wir uns über Anfragen der IG Metall-Betriebsräte oder ihrer Betriebsbetreuer – aber das nur am Rande.
Zunächst einmal solltet ihr euch im Betriebsrat klarmachen, wie die Beschäftigten sich bisher an der Versammlung beteiligen können.
Zuerst mal können und sollen die Beschäftigten Informationen aufnehmen. Das klingt nach wenig, ist aber doch viel. In Betrieben, die keinen Betriebsrat haben, wünschen sich die Mitarbeiter nämlich genau deshalb einen Betriebsrat, damit der Informationsfluss besser wird. Natürlich können und werden die Beschäftigten Feedback geben. Sie können klatschen, beredt schweigen, buhen oder aufstehen und gehen. Und sie können Fragen stellen und Diskussionsbeiträge einbringen.
Um die Beteiligung der Beschäftigten zu steigern, schlagen wir folgende Formen vor: Repräsentanz, Feedback ausbauen, Diskussion anstacheln und Abstimmung durchführen.
Hierzu ein paar Beispiele:
Repräsentieren
Es ist ein großer Unterschied, ob der Betriebsratsvorsitzende Helmut Müller erzählt, der Betriebsrat habe für die Kollegen im Lager erreicht, dass sie nicht mehr fortwährend im Luftzug ständen, oder ob das ein oder mehrere Kollegen der Abteilung selbst erzählen. Letzteres ist wesentlich authentischer. Wenn sie selbst beschreiben, wie es vorher war und wie es sich gebessert hat, wird das geglaubt. Schließlich haben sie es selbst erlebt. Häufig ist es besser, die Kollegen zu interviewen, statt sie eine Rede halten zu lassen. Weil sie nicht gewohnt sind, vor großen Gruppen zu reden, ist die Gefahr groß, dass sie in der Aufregung etwas Wichtiges vergessen. Bei einem Interview kann der Moderator nachfragen. Außerdem lockert so ein Interview den Rechenschaftsbericht ungemein auf.
Wenn sich niemand findet, der vor 3.000 Menschen sprechen will, könnt ihr das Interview auch als Video drehen und während der Versammlung zeigen. So ein Medienwechsel erzielt immer hohe Aufmerksamkeit. Wichtig: Das Video sollte nicht länger als 2:30 Minuten sein, die Menschen haben sich an kurze, knackige Youtube-Videos gewöhnt.
Rückmeldungen
Rückmeldungen sind wichtig, dafür gibt es viele Feedbacksysteme. Themenabfragen vor der Versammlung für die Versammlung, ein Stimmungsbarometer beim Hineingehen in die Versammlung oder Punkten beim Verlassen. Oder ein Fragebogen, der zusammen mit einem IG Metall-Kugelschreiber auf jedem Platz liegt und nach der Versammlung ausgefüllt abgegeben werden kann. Und dann gibt es noch Live-Feedbacks, die während der Versammlung abgegeben werden können.
Dazu drei kleine Methoden:
Die Rote Karte zeigen
Es steht eine Entscheidung der Geschäftsführung an, die auf der Versammlung verkündet wird. Dann bewaffnet ihr die Belegschaft mit roten Karten, die alle an geeigneter Stelle zeigen. Macht ihr noch ein Foto von der Aktion, habt ihr zugleich ein gutes Bild für die lokale Presse. Aber diese Methode klappt so natürlich nur in besonderen Situationen, obwohl es auch Betriebe geben soll, wo eine Rote Karte auf jeder Betriebsversammlung fällig wäre.
Feedback einsammeln
Ihr verteilt unter jedem fünften Sitz einige Metaplankarten und Stifte. An dem Punkt, zu dem ihr ein Feedback haben wollt, moderiert ihr das Ganze wie folgt an: »Wir haben unter jeden fünften Platz einige Karten und Stifte gelegt. Wir bitten euch, dass ihr, so wie ihr nebeneinander sitzt, in Zweier- oder Dreiergruppen die Köpfe zusammensteckt und uns aufschreibt, was ihr von unserem Vorschlag haltet. Wir sammeln die Vorschläge dann ein, lesen einige vor und machen eine Auswertung.« Nach drei Minuten gehen dann Betriebsräte und Vertrauensleute durch die Reihen, sammeln die Karten ein und bringen sie nach vorne.
Gerade in einer großen Betriebsversammlung kommen da viele Hundert Karten zusammen. Daher sagt ihr: »Wir werden jetzt einige vorlesen und die restlichen auswerten und euch ein Feedback geben.« Dann blättert ihr durch und lest vor. Ihr müsst nicht jede Karte vorlesen, aber drei Sachen sind wichtig: Lest auch kritische oder andere Meinungen vor, distanziert euch nicht und macht euch nie über Feedbackgeber lustig.
Dieses Feedbacksystem ist sehr einfach, muss aber gut vorbereitet sein. Wenn es nicht Teil der Betriebskultur ist, dass Metaplankarten auf Betriebsversammlungen ausgefüllt werden, braucht ihr einige Beschäftigte, die mit gutem Beispiel vorangehen, damit es keine kollektive Verweigerung aus Scham gibt. Schließlich ist die Sache neu, ihr habt das noch nie gemacht. Die Beschäftigten, die vorangehen, müssen vor der Versammlung gezielt auf diese Rolle vorbereitet werden. Habt ihr das ein paarmal gemacht, ist es ein Selbstläufer.
TED
Die Sendung »Wetten das…?!« und der Grand Prix Eurovision de la Chanson haben frühzeitig auf Zuschauerbeteiligung gesetzt. Damals mit Tele-Voting. Man konnte anrufen und wurde gezählt. Dann wurde das Ergebnis live eingeblendet. Heute gibt es eine Reihe von Apps, die solche Funktionen in einem Netzwerk ausfüllen. Wenn ihr nicht extra Tablets ausgeben könnt oder wollt, so kann sich jeder, der sich beteiligen will, eine App auf sein Smartphone oder Tablet laden. Das könnt ihr vor der Veranstaltung ankündigen, und dann ist viel möglich. Von Voting über Live-Twitter bis hin zu Vorschlägen. Allerdings solltet ihr euch gut mit der App vertraut machen, das Netzwerk muss die Kapazität hergeben und ihr braucht einen detaillierten Plan, was ihr damit wollt. Denn Technik um der Technik willen macht keinen Sinn. Und es muss vorher gut getestet sein.
Wer schon mal während der Veranstaltung festgestellt hat, dass die PowerPoint-Präsentation, auf der sein Vortrag fußt, nicht auf dem mitgebrachten Stick ist, der hat eine Vorstellung davon, was es bedeutet, wenn eine beteiligungsorientierte Betriebsversammlung wegen der lahmenden TED-App live und unter Beobachtung des Publikums umgestrickt werden muss.
Wissen solltet ihr: Diese Apps können wenig, was die anderen Feedback-Möglichkeiten nicht auch können, sie schließen Leute ohne Smartphone aus und sie sind aufwändiger und teurer. Aber sie sind nicht aus Papier und hip und cool.
Diskutieren
An den meisten Diskussionen auf Betriebsversammlungen beteiligen sich entweder gar keine Beschäftigten oder immer dieselben drei. Das ist einzig dann anders, wenn es einen großen betrieblichen Konflikt gibt, z. B. eine Massenentlassung. Wollt ihr den Punkt Aussprache ausdehnen, so heißt es: gewusst wie. Redebeiträge vorbereiten und Redeschwelle senken.
Redebeiträge vorbereiten ist vermutlich das einfachste: Ihr sprecht vor der Versammlung gezielt bestimmte Vertrauensleute oder einen kritischen Abteilungsleiter an und bittet sie, Stellung zu nehmen. Ist die Versammlung mehrere Tausend Leute groß, ist es oft schwer, Freiwillige zu finden. Dann gilt es, die Redeschwelle zu senken. Zuschauer-Mikrophone machen die Beteiligung leichter, weil man nicht vor die Menge nach vorne gehen muss, aber manchmal reicht das nicht aus. Dann könnt ihr es entweder auf der Appellebene versuchen (»Traut Euch!«) oder aber durch einen Trick, den ich hier Außenwette nennen möchte, um erneut auf »Wetten das…?!« anzuspielen. Man gibt die Möglichkeit, seinen Redebeitrag per Video abzugeben. Vor der Videokamera spricht es sich deutlich leichter als vor 3.000 Leuten. Der Redebeitrag wird dann eingespielt.
Abstimmen
Diese Beteiligungsform steht im Betriebsverfassungsgesetz. Im § 45 heißt es im letzten Satz: »Die Betriebs- und Abteilungsversammlungen können dem Betriebsrat Anträge unterbreiten und zu seinen Beschlüssen Stellung nehmen.« Anträge und Stellungnahmen einer Versammlung können immer nur durch Beschlüsse zu Stande kommen. Das bedeutet: Die Belegschaft kann dem Betriebsrat Vorschläge machen, kann sein Vorgehen bewerten oder ihm Aufträge erteilen. Dabei muss man wissen, dass ein solches Vorgehen dem Betriebsrat mehr Legitimität verleiht, ihn aber nicht rechtlich bindet. Und dies müsst ihr der Versammlung auch klar sagen, damit es nicht zu Enttäuschungen kommt.
Unterstützung
Wenn ihr Unterstützung bei der Einführung von Beteiligung wollt und euch mit eurem Betriebsbetreuer abgesprochen habt, so könnt ihr euch gerne an das Projekt Beteiligung wenden. Via Extranet der IG Metall unter Y Praxis Y Projekt Beteiligung. Dort stellen wir immer wieder neue Ideen vor. Und ihr findet unsere Kontaktdaten. Gemeinsam schauen wir dann, wie wir euch unterstützen können.
Legend Titelbild: Gleich geht es los. Nach der Begrüßung finden sich hier die Gruppen zusammen.
Legende zweites Bild: So funktioniert der Markt der Möglichkeiten. Vier Themen, vier Ecken, vier Moderatoren und dann geht’s im Uhrzeigersinn von Station zu Station. Da ist Bewegung drin, und es wird nichts verpasst.
Texte und Fotos: Markus Büchting
aus dem Buch: Einfach begeistern, Klaus Kellner Verlag