Dieser Artikel ist zwar schon zwei Jahre alt, hat an seiner Aktualität nichts verloren. Hab ihn gelesen und blogge ihn jetzt. Der Artikel erschien in der Frankfurter Rundschau.
Mr. White, zu der 68er-Bewegung gehörten Großdemonstrationen unbedingt dazu. Noch heute verbinden wir mit Protest, mit Aufstand vor allem den Gang auf die Straße. Sie schreiben aber, diese Form des Protests sei am Ende. Warum?
Die Annahme, dass unsere Regierungen auf uns hören müssten, sobald wir genug Menschen dazu bringen, auf die Straße zu gehen, beruht auf einem Mythos über Demokratie. Er besagt, dass die Macht einer Regierung an die Zustimmung ihrer Bürger gebunden ist. Wenn die Bürger demonstrieren – wenn sie diese Zustimmung also entziehen –, dann müsste die Regierung auf sie hören. Die Regierungen haben aber erkannt: Auch Hunderttausende Demonstranten können sie nicht dazu zwingen, ihr Verhalten zu ändern oder Machtpositionen neu zu besetzen.
Gab es einen bestimmten Moment, an dem Großdemonstrationen praktisch wirkungslos wurden?
Im Jahr 2003 gingen Menschen in verschiedensten Ländern, auf jedem Kontinent, gegen den Irak-Krieg auf die Straße. Trotz all dieser Proteste trieben George W. Bush und Tony Blair den Krieg voran. Das war der definitive Beweis dafür, dass westliche Regierungen der Meinung waren und sind, sie müssten auf solche Demonstrationen nicht mehr hören.
Was sind die Konsequenzen daraus?
Wir können Bewegungen ins Leben rufen, die Wahlen gewinnen, oder solche, die Kriege gewinnen. Nehmen wir die Zeit vor und nach 1968: Damals haben sich linksgerichtete Terrororganisationen in Deutschland, Italien, Japan und den Vereinigten Staaten gebildet. Sie alle haben den Krieg, den sie geführt haben, verloren. Also bleibt noch eine Option, eine Frage: Wie können wir sozialen Protest organisieren, dem es möglich ist, Wahlen zu gewinnen, ohne einfach nur eine politische Partei zu werden?
In Deutschland gingen aus Teilen der 68er-Bewegung die Grünen hervor. Jedoch hat die Partei mittlerweile viele realpolitische Entscheidungen getroffen, gegen die sie selbst einst protestiert hätte. Wie kann revolutionäre Politik in und aus den gegebenen demokratischen Strukturen, also aus dem Parlament oder sogar von einer Regierung, umgesetzt werden?
Das ist eigentlich die wichtigste Frage. Das System ist sehr gut darin, Opposition in sich aufzusaugen. Traditionell stellt sich eine Bewegung hinter eine Handvoll charismatischer Charaktere und steckt all ihre Hoffnungen in sie. Wenn diese dann aber an die Macht kommen, trinken sie Champagner, essen Kaviar und werden komplett losgelöst von der Bewegung. Es geht also darum, sich eine soziale Bewegung vorzustellen, der es gelingt, komplexe Entscheidungen gemeinsam zu treffen. Sie müsste Personen an die Macht bringen, die bei wichtigen Entscheidungen auf die Bewegung zurückkommen und fragen: Was sollen wir tun?
Sie gehen also davon aus, dass revolutionäre Veränderungen im Rahmen unserer jetzigen Demokratien möglich sind, ohne diese zu zerstören?
Da bin ich mir nicht sicher. Wie die alten Marxisten zu sagen pflegten: »Wir müssen den Staat zerschlagen.« Als sie dann Kontrolle über den Staat hatten, veränderten sie die Art, wie er funktioniert. Das, denke ich, ist das fehlende Verbindungsstück. Niemand – nicht mal Bewegungen wie Movimento Cinque Stelle in Italien oder Podemos in Spanien, ja nicht mal US-Präsident Donald Trump – versucht fundamental die Art und Weise zu verändern, in der Entscheidungen getroffen werden.
Sie schreiben auch über die Idee einer »Welt-Partei«. Wie sieht die aus?
Das ist für mich eine Art »goldenes Szenario«: Eine soziale Bewegung zu schaffen, die Wahlen in mehreren Ländern gewinnen und einer gemeinsamen Vision folgen kann. Es gibt immerhin Entwicklungen wie etwa »Diem25«, initiiert vom ehemaligen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis. So eine Bewegung wäre der Weg, Lösungen für die globalen Herausforderungen zu schaffen, denen wir gegenüberstehen.
Erzählen Sie bitte etwas über innovative Formen von Protest und Aktivismus.
Aktivismus beruht meist auf der Idee, dass Menschen durch bestimmte Aktionen sozialen Wandel herbeiführen wollen. Aber sehr wenige fragen, ob die Vorstellung, dass Menschen dabei der zentrale Punkt sind, falsch sein könnte. Nahrungsmittelpreise sind ein gutes Beispiel. Wenn sie auf Rekordhöhe steigen, führt das fast zwangsläufig zu revolutionären Momenten. Ich glaube deshalb, dass es für jeden Aktivisten wichtig ist zu realisieren, dass es nicht nur auf sie oder ihn selbst ankommt.
Was bringt Menschen überhaupt dazu, nach Veränderung zu streben – und dabei auch eine aktive Rolle spielen zu wollen?
In der heutigen Zeit geschehen ständig Veränderungen, jederzeit und überall – aber fast immer außerhalb unserer Kontrolle. Es gibt die gleichgeschlechtliche Ehe, es gibt den Klimawandel. Aber all das sind Veränderungen, die uns »angetan« werden. Veränderung ist furchteinflößend, ich verstehe das. Und es gibt auch einen gesunden Konservatismus. Aber man müsste eine soziale Bewegung bilden, die das Potenzial hat zu gewinnen. Dann wird man schnell sehen, wie sich die Menschen hinter diese Bewegung stellen, auch wenn das zwei Wochen zuvor noch wie ein Ding der Unmöglichkeit erschienen ist. Soziale Bewegungen sind ansteckend, mitreißend, teils auch irrational. Es überrascht mich immer wieder, wie schnell die Angst vor Veränderung schwindet, sobald es einen revolutionären Moment gibt.
Kommt es denn nicht auch auf die Idee hinter einer Bewegung an?
Traditionell beruft sich die Linke auf ihre Rationalität, ihre Intelligenz: Wir beginnen mit einer Idee, und dann streben wir die Revolution an. Ich halte das für sehr rückwärts gedacht. Die meisten Menschen schließen sich sozialen Bewegungen und Protesten an, weil es sich gut anfühlt. Nehmen wir den Arabischen Frühling, Occupy oder Black Lives Matter: Da haben Menschen zugeschaut und sich gedacht: »Das ist irgendwie interessant.« Dann haben sie teilgenommen und sich toll gefühlt. Erst, wenn du sie gefragt hast »Warum bist du hier?«, wurde ihnen der rationale Grund bewusst: »Oh ja, wirtschaftliche Ungerechtigkeit, deswegen, ich erinnere mich.« Der rationale Grund ist zweitrangig, der emotionale vorrangig.
Finden Sie das vertrauenserweckend?
Natürlich ist das auch gefährlich. Die Linken hätten gerne, dass sie die einzigen sind, die riesige Menschenmengen mobilisieren können, weil sie sich ja um die Massen kümmern. Aber soziale Bewegungen sind eine Art Waffe, die von allen möglichen politischen Ideologien genutzt werden kann. Die Aufgabe der Linken ist es also, die Besten in der Nutzung dieser Waffe zu sein.
Bei den Protesten gegen die Eröffnung der Europäischen Zentralbank in Frankfurt 2015 oder gegen den G20-Gipfel 2017 in Hamburg gab es massive Ausschreitungen. Wie, denken Sie, wird aus einem ursprünglich friedlichen Protest ein gewalttätiger Aufstand?
Manche haben die Vorstellung, dass während revolutionärer Momente die Fenster von Banken eingeschlagen werden und es demnach einen revolutionären Moment geben wird, wenn ich das Fenster einer Bank einschlage. Es gibt dieses verdrehte Denken. Die Menschen wollen so verzweifelt eine Revolution gegen die Banken, dass sie meinen, sie könnten sie durch aufrührerisches Benehmen erzwingen.
Was können Menschen tun, die die Gesellschaft verändern wollen, selbst aber keine Aktivisten sind?
Alle sozialen Bewegungen, die in jüngster Zeit groß wurden – Black Lives Matter, Occupy –, entstanden dadurch, dass jemand etwas auf Facebook gepostet hat. Es kann so einfach sein: »Ich rufe alle zu einem Protest an dem und dem Tag gegen das und das auf.« Vielleicht protestieren tatsächlich ein paar Leute an diesem Tag mit. Vielleicht nicht. Dann probiert man etwas anderes. Es geht darum, eine Initialzündung zu setzen.
Und wie soll man die Geduld dafür aufbringen, wenn es beim ersten, zweiten und auch beim dritten Mal nicht funktioniert?
Revolutionen tauchen nicht auf wie ein Hurrikan, über den Meteorologen sagen können: »Er formiert sich im Pazifischen Ozean und wird in fünf Tagen die Ostküste treffen.« Zwei Tage bevor der Arabische Frühling begann, hätte niemand gedacht, dass so etwas möglich wäre. Zwei Tage bevor die Russische Revolution begann, hätte niemand gedacht, dass es sie geben könnte. Wer etwas verändern will, muss sich sagen: »Okay, es scheint jetzt gerade unwahrscheinlich, aber es kann jederzeit passieren, also lohnt es sich, es weiter voranzutreiben.«
Aber wenn Revolutionen doch sowieso passieren, warum sollte jemand dann Arbeit in Proteste stecken?
Ein Sozialwissenschaftler hat mal gesagt: Wenn während eines Protestes eine Art von welthistorischer Krise aufkommt und der Protest weitergeht, dann hat er eine vierprozentige Chance, erfolgreich zu sein. Es kann sich also lohnen, auch während der Zeit des Stillstands aktiv sein. Zum Beispiel hätte eine soziale Frauenbewegung, eine politische Frauenpartei, meiner Meinung nach gewaltiges Potenzial. #Metoo und die Debatte um sexuelle Belästigung sind wichtig, aber noch tiefer würde eine Frauenbewegung gehen, die sagt: »Wir wollen 50 Prozent der politischen Macht, 50 Prozent aller politischen Ämter in jedem Land, von der lokalen bis zur höchsten Ebene.« Ich kann mir gut vorstellen, wie das durchstartet. Ein anderes, lohnendes Thema ist die Frage des sozialen Wohnungsbaus. Auf der ganzen Welt haben Regierungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts bezahlbaren Wohnraum für arme Menschen geschaffen. Nun wird ein großer Aufwand betrieben, diesen wieder loszuwerden. Ich kann mir also eine Bewegung vorstellen, die in Gebieten sozialen Wohnraums entsteht und sich dann sehr schnell in Armenvierteln rund um die Welt verbreitet, eine Bewegung, die die Unbezahlbarkeit des Lebens hervorhebt – etwas, das sehr viele Menschen betrifft.
Frankfurter Rundschau, 1. Mai 2018