Der Protest- und Bewegungsforscher Dieter Rucht zum Erbe von Occupy und was Soziale Bewegungen ausmacht.
Herr Rucht, haben Sie in letzter Zeit mal an die Protestbewegung Occupy gedacht?
Immer wenn ich ein Beispiel dafür suche, dass Bewegungen sehr schnell aufsteigen und absteigen können.
Die Missstände, die Occupy angeprangert hat, haben sich ja keineswegs erledigt. Warum hat die Bewegung dennoch nicht überlebt?
Erstens wollte Occupy keine Sprecher oder Repräsentanten. Die Bewegung hat sich jeglicher Form von Organisation widersetzt. Zweitens blieb Occupy mit seiner Protestform der Platzbesetzung exklusiv, denn Familien mit Kindern können es sich ja nicht leisten, wochenlang in einem Camp zu leben. Drittens brachten die Camps Probleme mit sich, weil sich auch Leute dort festsetzten, die gar nichts mit den Protesten zu tun hatten. Und viertens standen die Camps immer unter dem Damoklesschwert der Räumung, was für eine angespannte Stimmung sorgte.
Gibt es ein Muster, wann Bewegungen aufleben und absterben?
Kein festes Muster, aber ein paar wiederkehrende Gründe. Erfolg zum Beispiel. Bewegungen lösen sich auf, wenn sie ihr Ziel erreicht haben. Dann können sie sich die Hände reiben und sagen: Das war’s …
… weil sie sich totgesiegt haben …
… wie bei der Anti-Atomkraft. Bewegungen können aber auch enden, weil sie so viel Gegendruck hervorrufen, dass sie frustriert aufgeben. Oder es kommt zu Spaltungen, wie bei der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung in den 1960er Jahren. Da gab es auf der einen Seite den strikt gewaltfreien Flügel um Martin Luther King, dem es um schrittweise Reformen ging. Und auf der anderen den militanten Flügel um Malcolm X und die Black Panther, der sich bewaffnen und in den Kampf ziehen wollte.
Wohin verschwinden die Aktivist:innen, wenn eine Bewegung sich auflöst?
Manche ziehen sich nach dem Scheitern desillusioniert ins Private zurück. Andere sind aber so angefixt und politisiert, dass sie auf verwandten Gebieten weitermachen. Ursprünglich wollten sie vielleicht das AKW in Breisach verhindern, im nächsten Schritt dann AKWs überall, und irgendwann landen sie möglicherweise beim Protest gegen die Verflechtung von Wirtschaft und Politik.
Ab wann wird eine politische Kampagne überhaupt zur sozialen Bewegung?
Wenn es um einen grundlegenden sozialen Wandel oder die Verhinderung dieses Wandels geht. Grundlegend bedeutet, dass die Gesellschaft in ihren Fundamenten berührt und infrage gestellt wird, dass die dominanten Machtstrukturen und herrschenden Werthaltungen thematisiert, problematisiert oder attackiert werden. Hinzu kommt, dass soziale Bewegungen aus einem Netzwerk von Gruppen und Organisationen bestehen, die sich alle verbunden fühlen, eine kollektive Identität aufweisen und überwiegend Mittel des öffentlichen Protests nutzen.
Sind die »Fridays for Future« dann überhaupt eine soziale Bewegung?
Nein, eigentlich noch nicht. Das Klimathema ist sicher sehr breit, aber »Fridays for Future« hat noch nicht den Horizont der gesamtgesellschaftlichen Kritik erreicht. Zum Teil geht es ja um Forderungen, die die etablierte Politik sich bereits zu eigen gemacht hat. So gesehen machen die »Fridays« keinen Versuch zur grundlegenden Umgestaltung der Gesellschaft. Wenn man das Thema Klima und Umweltschutz allerdings zu Ende denkt, müsste man konsequenterweise zu einem alternativen Entwurf, vielleicht sogar zur Utopie einer ganz anderen Gesellschaft kommen.
Die »Fridays« müssten radikaler und grundsätzlicher denken, um zur sozialen Bewegung zu werden?
Ja, die Systemfrage wird von »Fridays for Future« nicht gestellt. Einzelne Aktivist:innen tun das zwar durchaus, aber insgesamt gibt es keine derartige programmatische Forderung. Die »Fridays« bleiben bei ihren Kernanliegen, die völlig systemkonform sind und das Bestehende in keiner Weise strukturell oder institutionell transzendieren.
Ist das aber nicht auch der Grund ihres Erfolgs?
Sicher. Die fröhlichen Demonstrationen als Grundmuster ihres öffentlichen Auftretens haben einen sehr freundlichen und appellativen Charakter. Sollten die »Fridays« aber zu zivilem Ungehorsam greifen, würde die breite Zustimmung, wie sie sich bei den »Parents« oder den »Scientists for Future« zeigt, schnell aufgekündigt werden.
Unter strategischen Gesichtspunkten machen sie es dann doch genau richtig – nämlich so viele Menschen wie möglich mitzunehmen.
Ja, das kann aber auch bedeuten, dass man so eine Friede-Freude-Eierkuchen-Veranstaltung hat. Die schiere Freundlichkeit sichert noch nicht den Erfolg. Die »Pulse of Europe«-Initiative zum Beispiel war so ein netter Versuch, aber zum Scheitern verurteilt.
Welche Mittel sind denn bei Widerstand und Protest angebracht, um das angestrebte Ziel zu erreichen?
Dabei muss man zwischen Widerstand in autoritären bzw. totalitären Systemen und in demokratischen Systemen unterscheiden. In totalitären Systemen können alle Mittel, bis hin zum politischen Mord, als legitim angesehen werden.
Sie meinen den Tyrannenmord?
… der historisch selbst von der katholischen Kirche gutgeheißen wurde. Um ein totalitäres System zu stürzen, kann das gesamte Spektrum des Protests bis hin zur Gewalt legitim sein. Wenn wir aber über demokratische Systeme reden, ist für mich die Grenze beim zivilen Ungehorsam erreicht; der kann unter bestimmten Voraussetzungen sogar nötig werden. Was aber nicht geht, ist die Grenzüberschreitung zur »friedlichen Sabotage«. Die halte ich für problematisch.
In einer Demokratie ist selbst Gewalt gegen Sachen zu verurteilen?
Diese Diskussion wird unter Aktivist:innen ständig geführt. Es gibt eine harte Grenze: Gewalt gegen Personen ist tabu. Schwierig ist aber die Grenzziehung bei der Sachbeschädigung. Die Skala beginnt bei Graffiti und endet beim Sprengstoffanschlag. Aber sind Graffiti Gewalt?
Lässt sich der Kampf gegen strukturelle Gewalt für Sie nicht rechtfertigen?
Klar, diese Welt ist voll von struktureller Gewalt. Die ungerechten Handelsbeziehungen zwischen dem globalen Norden und Süden, Hunger und Armut, die durch Profitgier verursacht werden …
… die Geschlechterhierarchie.
Mit struktureller Gewalt kann man jedes systematisch verursachte Übel dieser Welt beschreiben. Doch indem der Gewaltbegriff in diese Richtung ausgeweitet wird, verschafft man sich einen Persilschein für jede Form von Gegengewalt. Bei den G20-Protesten wurde die Denkfigur der strukturellen Gewalt bemüht, um Autos abzufackeln. Mit dem Argument, das seien lächerliche Formen der Gewaltanwendung gemessen an der strukturellen Gewalt, die weltweit herrscht.
Protestbewegungen gibt es ja nicht nur von links, sondern auch von rechts. Wo liegen die grundlegenden Unterschiede – jenseits der politischen Ziele?
In der Tendenz versuchen linke Bewegungen, sich demokratisch zu organisieren, während bei rechten Gruppen das Führerprinzip gilt – auch wenn das dann häufig unterlaufen wird, weil es viele kleine Führer gibt, die um Sichtbarkeit und Einfluss ringen und sich bekämpfen.
Wie steht es dabei um die Ideologie der Ungleichheit?
Trotz brutaler Gegenbeispiele sind linke Bewegungen in der Breite und über Epochen hinweg betrachtet im Kern solidarisch und inklusiv ausgerichtet. In der Tendenz verfechten sie Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit, also Werte, die auch in den modernen Verfassungen verankert sind. Dagegen ist für rechte Bewegungen die Ungleichheit zwischen Menschen konstitutiv. Sie sehen Ungleichheit als naturgegeben an und rechtfertigen so Ausgrenzung und Abwertung.
Dennoch spricht die Politik gern von linker und rechter Gewalt in einem Atemzug.
Dabei gibt es enorme Unterschiede beim Gewaltpotenzial. Nehmen wir nur mal harte Indikatoren wie die Zahl der Toten. Seit 1990 gehen in Deutschland vielleicht zehn Tote auf das Konto von Linksextremisten. Von Rechtsextremisten wurden dagegen mindestens 80, wahrscheinlich aber rund 180 politisch motivierte Morde begangen.
Wenn Sie selbst sich eine soziale Bewegung backen könnten – wie würde die aussehen?
Ich würde keine Bewegung ins Leben rufen, die ein enges Ziel verfolgt. Es müsste eine Solidaritätsbewegung sein, die bei akuten, dringlichen Problemen mal hier, mal dort aktiv wird und dabei den Grundgedanken der Solidarität, der Gerechtigkeit und Menschenwürde hochhält. Allerdings muss ich gleich dazusagen: Ein so breites Programm bleibt zu abstrakt und zu diffus, um eine Bewegung dauerhaft am Leben zu erhalten.
Interview: Bascha Mika mit Dieter Rucht, der ist Senior Fellow am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.
aus der Frankfurter Rundschau, 15. Oktober 2021
Gelesen von Michael Rasch