Aus der Frankfurter Rundschau vom 15. Feburar 2021
Wozu brauchen wir diese Floskel? Was sagt sie über unser Verhältnis zur Wahrheit aus? Die Kolumne.
»Ich bin ehrlich gesagt wirklich sehr erleichtert.« »Es ist ehrlich gesagt schon erschreckend, was da an einem einzigen Renn-Wochenende passiert ist.« »Ehrlich gesagt, waren wir überrascht, weil die Inzidenz […] ja noch über 100 pro 100 000 Einwohner liegt.«
Was haben die Aussage von Außenminister Heiko Maas zur Amtseinführung des 46. US-Präsidenten Joe Biden, die Beurteilung der Ski-Legende Marcel Hirscher zu einem rasanten Wettkampfwochenende Mitte Januar und die Einschätzung einer regionalen AWO-Geschäftsführerin zur geplanten Kita-Öffnung in Sachsen gemeinsam? Sie sorgen dafür, dass ich allen dreien mit maximaler Ernsthaftigkeit gegenübertreten möchte, um sie zu fragen: »Ist alles andere, was Sie gesagt haben, nicht ehrlich? Haben Sie gar gelogen?«
Ehrlich gesagt habe ich noch nie verstanden, wozu es den sprachlichen Einschub braucht. Stärker noch, er macht mich wütend. Weil ich das Gefühl habe, dass die zwei Wörter symptomatisch für ein gesellschaftliches Paradox stehen, das wir nicht nur stillschweigend hinnehmen, sondern das uns auch am Fortschritt hindert.
Auf der einen Seite lehrt mindestens jedes zweite Kinderbuch, dass Ehrlichkeit eine der wichtigsten Tugenden sei und Lügen bestraft werden. So weiß der Nachwuchs um des Lügners lange Nase und kurze Beine. Auf der anderen Seite haben wir uns eine gesellschaftliche Ordnung geschaffen, in der wir häufig unehrlich sind. Warum sonst brauchen wir investigative Journalist:innen und andere Wahrheitsaufdecker:innen, die Vertuschung, Korruption, Plagiate und Co. ans Licht bringen? Warum sonst ist in der Welt der Erwachsenen nicht mehr der Lügner der Schurke, sondern die eine Person, die es wagt, die Wahrheit auszusprechen, die Heldin?
Weil wir Erwachsenen uns (Belohnungs-)Strukturen geschaffen haben, in denen es ein »ehrlich gesagt« braucht. Weil so vieles unehrlich ist. Beginnend bei unserem intimsten Verhältnis – dem zu uns selbst. Wir vermeiden unangenehme Informationen nicht nur, sondern zahlen sogar dafür, nicht ehrlich zu uns sein zu müssen. Gehen Versuchsteilnehmer davon aus, dass ihr IQ oder ihre Attraktivität unter dem Durchschnitt liegt, zahlen sie den Versuchsleitern Geld, um ihren genauen Rang nicht zu erfahren.
Welch bessere Zeit als die aktuelle könnte es geben, um Gewohnheiten, Strukturen und bisherige Normen im Kleinen und Großen zu hinterfragen. Schließlich zeigt uns die Corona-Pandemie nicht nur, was wir wirklich zum Leben brauchen und was systemrelevant ist, sondern drängt uns mangels Ablenkungsangeboten auch zur ehrlichen Auseinandersetzung mit uns selbst.
Lassen wir uns darauf ein, können wir die Blockaden aus dem Weg räumen, die uns bisher so oft am Fortschritt hindern. Denn nur, wenn wir ehrlich mit uns selbst sind, können wir uns weiter entwickeln, können wir fortschreiten. Nur wenn wir darüber hinaus eine Kultur der Ehrlichkeit etablieren, können wir Zeit sinnvoll nutzen, um nach Fortschritten und Lösungen zu suchen, statt wertvolle Zeit mit aufwendigen Vertuschungsmanövern und Sündenbocksuchen zu vergeuden.
Dafür müssen wir Politiker:innen, Wissenschaftler:innen und Unternehmer:innen applaudieren, wenn sie stolz Fehler kommunizieren (statt sie bloß einzugestehen), wenn sie offen ihre Grenzen darstellen (statt sich in die Erschöpfung zu arbeiten) und ehrlich über Ziele sprechen (statt Pseudoerklärungen zu liefern). Nur dann kann Ehrlichkeit ihr Dasein als glorifizierte Heldentat hinter sich lassen und zu dem Standardwert werden, der sie in Kinderbüchern ist. Denn ehrlich gesagt ist das Leben zu kurz für alles andere.
Maren Urner ist Professorin für Medienpsychologie und Neurowissenschaftlerin.
Zusammengestellt: Michael Rasch