Corona –von einer abstrakten medialen Gefahr zur konkreten Erfahrung mit dem Virus
An einem Donnerstag Mitte April spürte ich auf der Arbeit einen grippalen Infekt heranziehen und beschloss am Nachmittag, mich krankheitsbedingt nach Hause zu begeben. Von den Kolleg*innen verabschiedete ich mich mit ein paar Witzen zu einer möglichen Corona-Erkrankung und ging in der Gewissheit, am darauffolgenden Tag, oder spätestens nach dem Wochenende wieder zur Arbeit zu erscheinen. Den grippalen Infekt schob ich auf zwei Arbeitswege mit dem Fahrrad, bei denen es gegen Abend empfindlich kalt geworden war.
Aus dem grippalen Infekt entwickelte sich in den nächsten Tagen eine handfeste Grippe mit Fieber, Gliederschmerzen und Erschöpfungszuständen. Da die Symptome auch denen glichen, die ich bislang aus den Medien in Zusammenhang mit Corona bzw. Covid-19 in Verbindung gebracht hatte, wollte ich nunmehr Gewissheit, ob ich möglicherweise mit dem Virus infiziert war. Im Kontakt mit der Notfallambulanz der kassenärztlichen Vereinigung wurde ich dort zunächst abgewimmelt, weil die Voraussetzungen, z. B. mit intensivem Kontakt zu infizierten Personen, nicht gegeben waren. Auf der Arbeit waren zwar zwei Klienten und ein Kollege mit Corona infiziert, zu denen ich aber – im Sinne der Kriterien des Gesundheitsamtes – keinen ausreichend intensiven Kontakt hatte.
Nachdem ich beim dritten Anruf die Kontaktsituationen mit den Infizierten etwas dramatischer geschildert hatte als sie tatsächlich gewesen waren, wurde ich getestet. Am darauffolgenden Tag erhielt ich von einem Mitarbeiter des Gesundheitsamtes per Telefon die Information, dass das Corona-Virus bei mir nachgewiesen wurde – mit den entsprechenden Belehrungen einer 14-tägigen häuslichen Quarantäne und der Nachfrage bezüglich der Kontaktpersonen.
In der ersten Reaktion blieb ich gelassen, da ich eine 14-tägige Quarantäne mit einem milden Verlauf der Erkrankung als überschaubar ansah.
Wenn ich geahnt hätte, dass aus den 14 Tagen eines „milden Verlaufs“ ein siebenwöchiger Krankheitsverlauf mit zwei stationären Aufnahmen im Krankenhaus, anhaltendem Fieber und langandauernden Erschöpfungszuständen werden würde, wäre ich mit Sicherheit nicht so entspannt gewesen.
In der ersten Woche verlief die Erkrankung auch analog einer schweren Grippe mit Fieber und starken Erschöpfungszuständen und dem Wunsch tagelang zu schlafen. In der zweiten Woche besserte sich die Symptomatik und ich hatte die Hoffnung, in der dritten Woche wieder arbeiten gehen zu können. Dies kündigte ich dementsprechend auch am Ende der zweiten Woche in den sozialen Medien bei den Kolleg*innen mit optimistischen Sprüchen und Witzen an – und dann machte mir das Virus einen Strich durch die Rechnung…
Am Wochenende bevor ich wieder arbeiten gehen wollte, kam das Fieber zurück – und es blieb für weitere vier Wochen.
In Absprache mit meinem Hausarzt wurde ich am Ende der dritten Woche stationär in die Klinik aufgenommen um den hohen Entzündungswerten im Blut und dem anhaltenden Fieber auf die Spur zu kommen. Nachdem dort die wesentlichen Organe untersucht worden waren, wurde ich nach dem dritten Tag wieder entlassen. Die Schmerzen in der Lunge entpuppten sich als eine Lungenentzündung, die sich parallel zu Corona entwickelt hatte. Sie konnte mit Antibiotika gut behandelt werden.
Die Verabredung mit dem Oberarzt der Klinik war, dass ich wieder aufgenommen werde, sollten sich die Symptome nicht bessern – und sie besserten sich nicht…
Eine Woche später war ich wieder stationärer Patient in der Klinik um eine vertiefte Diagnostik zu betreiben, da insbesondere das Fieber nicht weniger wurde.
Beim zweiten Klinikaufenthalt – zu Beginn der fünften Krankheitswoche – stellte ich mir dann auch existenzielle Fragen, nachdem der Oberarzt von den unterschiedlichsten Krankheitsverläufen berichtete und offen einräumte, dass sie Covid-19 – wie alle Mediziner*innen auf der Welt – noch nicht verstehen würden. Seine Aussage, dass sie in der Klinik die Krankheit jeden Tag neu kennenlernen würden, beeindruckte mich ebenso durch die verblüffende Offenheit, wie durch die Einsicht, einer Krankheit ausgeliefert zu sein, für die es noch keine Erfahrungswerte und keine Behandlungsempfehlungen gibt.
Dementsprechend hatte ich dann in schlaflosen Nächten und in der häuslichen Quarantäne viel Zeit, mir dramatische Krankheitsverläufe in Erinnerung zu rufen, die ich aus den Medien kannte, mit Organversagen und aufwendigen intensivmedizinischen Behandlungen. Und die Phantasien werden unterstützt durch Krankheitsbilder von Mitpatienten auf der Klinikstation, die zwar nicht alle an Covid-19 litten, aber an vergleichbaren Erkrankungen, mit teilweise lebensbedrohlichen Prognosen.
Im Zuge dessen stellte ich mir auch ein paar grundsätzliche Fragen, die sich auf mein bisheriges Leben und den Umgang mit Familie und Freunden bezogen und den moralischen und gesellschaftspolitischen Werten, die ich vermitteln und umsetzen wollte. Ziele kamen mir in Erinnerung, die ich erreicht hatte und an denen ich mich vergeblich abgearbeitet hatte. Ebenso meine Missetaten, sowohl die für die ich bisher geradestehen musste als auch jene, für die ich nicht geradestehen musste.
Eine weitere psychische Herausforderung bestand in der Erkenntnis, aus einem dynamischen und reichen Leben in einen Zustand weitgehender Hilflosigkeit zurückgeworfen zu werden, bei dem man für wesentliche Dinge auf die Hilfe anderer angewiesen ist, man sein Haus nicht verlassen darf – und jedes Besteigen einer Treppe mit einer längeren Erholungspause bezahlt werden muss. Diese Herausforderungen konnte ich insbesondere durch die sozialen Kontakte über Familie und Freunde bewältigen. Die Unterstützung, der Zuspruch und die Zuneigung, die man in Zeiten von körperlicher Einschränkung und psychischer Belastung erfährt, sind von herausragender Bedeutung, die Motivation – angesichts der unsicheren Behandlungsprognose – nicht zu verlieren.
Der zweite wichtige Baustein war für mich die medizinische Unterstützung durch den Hausarzt und die Klinik. Eine professionelle und emphatische Behandlung im direkten Kontakt und die telefonische Unterstützung und Nachfrage auch am Wochenende waren enorm bereichernd und psychisch unterstützend vor dem Hintergrund einer Erkrankung, die bisher niemand wirklich versteht.
Wenn ich nächste Woche – nach siebeneinhalb Wochen – mit angemessener Demut und dem oben beschriebenen Erfahrungsschatz wieder arbeiten gehe, werde ich allerdings auch nicht die Bilder und Berichte von Corona-Verschwörungstheoretikern, Corona-Leugnern und populistischen Politikern vergessen haben. Und ich ertappe mich bei dem Gedanken, ob eine »kleine« Corona-Infektion nicht zu einem echten Erkenntnisgewinn bei diesen Menschen beitragen würde…