Über 20 Millionen Menschen im deutschsprachigen Raum können nicht gut lesen. Dazu gehören Menschen, die aus anderen Sprachen nach Deutschland gekommen sind, Menschen mit geistiger Behinderung, Menschen mit Rechtschreib- und Leseschwäche.
Um dieser großen Gruppe einen Zugang zu Literatur zu ermöglichen, hat Hauke Hückstädt, Leiter des Literaturhauses Frankfurt, ein besonderes Projekt auf den Weg gebracht. Er bat 13 deutsche Autorinnen und Autoren, Geschichten in »Einfacher Sprache« zu schreiben. Das Buch heißt »LiES! Das Buch.«
Besser verstehen und  besser verstanden werden, darum geht es bei der »Einfachen Sprache«. Für Vereine und Verbände, Betriebsräte und Gewerkschaften ist da auch noch viel Luft nach oben. Was können wir von Dichtern lernen, wenn sie in »Einfacher Sprache« schreiben? 
»Der Anspruch eines Textes besteht nicht nur in dem, was er vor sich herträgt, sondern auch darin, was er bewirkt.« So der Herausgeber über die Poesie der Verknappung im Interview mit Anne Haeming  (Spiegel Kultur 18. März 2020).

Einfache Sprache rückt in Deutschland zunehmend ins öffentliche Bewusstsein. Immer mehr Internetauftritte, Broschüren und Flyer werden in Einfacher Sprache gestaltet. Und jetzt auch in der Literatur – in der »Hochkultur«?

»Mehrere Autoren sagten in der Tat: Es sei ein Thema für sie, weil sie keine Lust mehr haben auf Leservertreibung – ihnen gehe es um Lesergewinnung,« erläutert Hückstädt. 
Außerdem: »Warum muss Einfache Sprache ein Makel sein? Das kann doch Kunst sein! Ein freundliches Dogma – Regeln haben immer zur Kunst dazu gehört. Also haben wir 13 Autoren angefragt, deren Werk viel gelesen wird, darüber nachzudenken. Sie waren sofort fiebrig dafür. Auch weil sie wissen, dass Sprache das Labor unserer Zukunft ist. Und die Literatur am Ende wäre, würde sie nichts mehr ausprobieren.
In der Weltliteratur gab es immer Spuren Einfacher Sprache, man muss nur die erste Seite von Camus’ ‚Der Fremde‘ lesen.«

Die Autoren einigten sich auf Regeln: Einfache Wörter, einfache und kurze Sätze, viele Verben, keine Zeitsprünge.

Hückstädt: »Wir verwenden keine Sprachbilder. Und wenn, erklären wir diese im Text. Alle beschrieben es als Herausforderung, dass auf einmal das große Arsenal an Werkzeugen fehlte. Aber Literatur zu schreiben, muss – bitte schön! – eine Herausforderung sein. Die zehn Regeln wirken, als würde jemand im großen Werkzeugkasten nur drei Schraubschlüssel übrig lassen und sagen: Mach mal.«
Leidet unsere Sprache nicht unter dieser Vereinfachung?
»Nein«, sagt Hückstädt: »Wir gehen doch im Alltag ganz berührungsangstfrei mit Vereinfachungen um. Egal, ob Rolltreppe, Piktogramm oder Bauhaus-Sessel, der auch nur aus zwei Leder-Quadraten besteht. Was wir als ästhetisch höchst angenehm empfinden.« 

Und welche der zehn Regeln sollten wir uns bei unseren eigenen Texten besonders anschauen?

»Man muss alle zehn Regeln als Ganzes sehen. Aber ich antworte poetisch mit dem Dichter Arne Rautenberg: alles ist gekürzt um Längen besser

Anhang 1:
Leseprobe aus LiES! Das Buch.
Die Sprache ist ein verbindendes Thema in allen Geschichten. Sie tritt in der Textsammlung als Schlüssel auf. Sprache schafft Verständnis, sie ermöglicht Freundschaften, klärt Konflikte und wendet sich als erstes den Dingen zu, die uns umgeben, wie im Reisebericht von Jens Mühling:

»Die Fischer sprechen eine einfache Sprache.
Ich kann sie gut verstehen.
Nur wenn die Fischer über das Meer sprechen,
wird ihre Sprache schwierig.
Sie benutzen Wörter, die ich nicht kenne.
Wörter für Fische. Wörter für Schiffe.
Wörter für Werkzeuge. Wörter für den Wind.«

Anhang 2:
Leichte und Einfache Sprache – Versuch einer Definition
Aussage aus »Leichte und Einfache Sprache – Versuch einer Definition« von Gudrun Kellermann, Bundeszentrale für Politische Bildung am 19. Februar 2014

Leichte Sprache, Einfache Sprache – ist es dasselbe? Oft werden beide Begriffe synonym verwendet. Da Leichte Sprache kein geschützter Begriff ist, kommen unterschiedliche Regeln zum Einsatz. Leichte Sprache im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) hat das Ziel, Menschen mit Leseschwierigkeiten die Teilhabe an Gesellschaft und Politik zu ermöglichen. Sie folgt bestimmten Regeln, die unter maßgeblicher Mitwirkung des Vereins Mensch zuerst entwickelt wurden, und zeichnet sich unter anderem durch kurze Hauptsätze aus, weitgehenden Verzicht auf Nebensätze, die Verwendung von bekannten Wörtern, während schwierige Wörter erklärt werden. Das Schriftbild sollte klar, ohne Schnörkel (Serifen) und ausreichend groß sein. Nach jedem Satzzeichen sowie bei sinnvollen Satzabschnitten wird ein Absatz gemacht. Die Optik von Bild und Schrift muss übersichtlich sein. Farben sind eher sparsam einzusetzen. Einfache Illustrationen sind besser als Fotos, auf denen zu viele Details zu sehen sind.

Inclusion Europe hat ein Gütesiegel für Leichte Sprache entwickelt, das in Deutschland mittlerweile verbreitet ist und Texte kennzeichnet, die in Leichter Sprache verfasst und von Menschen mit Lernschwierigkeiten geprüft wurden. 

Der Motor für Einfache Sprache waren neben gesetzgebenden Institutionen vor allem Verbände aus dem Bibliotheks- und Verlagswesen. [8] 1992 wurde die Leser Charta verabschiedet, die das Recht auf Lesen verankert und dessen Bedeutung für die Teilhabe an der Gesellschaft heraushebt. [9] 1999 gab IFLA (International Federation of Library Associations and Institutions) Richtlinien für Easy-Reader-Material heraus, also Richtlinien für leicht lesbares Material. [10] Das Konzept umfasst zwei Komponenten: die sprachliche Abänderung eines Textes, sodass er leichter zu lesen ist, jedoch ohne den Inhalt zu verändern, und die Vereinfachung von Texten sowohl auf sprachlicher als auch auf inhaltlicher Ebene. In den Richtlinien werden als Hauptzielgruppen Menschen mit einer Behinderung, etwa mit einer Lernbehinderung, und Menschen mit begrenztem Lese- und Sprachvermögen benannt.

Quellen
Gelesen und zusammengefasst von Martin Rzeppa
Interview von Anne Haeming mit Hauke Hückstädt, Spiegel Kultur 18. März 2020
Leseprobe aus LiES!Das Buch.
Textauszüge aus »Leichte und Einfache Sprache – Versuch einer Definition« von Gudrun Kellermann, Bundeszentrale für Politische Bildung am 19.2.2014
Bezugsdaten: LiES! Das Buch von Hauke Hückstädt, Verlag Pieper, Bestellnummer: 978-3-492-07032-4