Bilanz ziehen und für die Zukunft werben mit Texten und Bildern. »Das machen wir doch lieber digital« hören wir oft in unseren Seminaren.
Unser Gehirn verarbeitet digitale Texte anders als gedruckte.
Was wir aus der Neuroforschung bereits wissen: In dem Moment, in dem ein Mensch ein Smartphone oder Tablet in die Hand nimmt, schaltet sein Gehirn auf den sogenannten »Goal Mode«, also Ziel-Modus. Der Nutzer möchte relativ schnell ein Ziel erreichen, das Gehirn sucht eine Belohnung. Das ergibt eine Art Stress.
Ganz anders, wenn ein Mensch eine gedruckte Zeitschrift in die Hand nimmt: Dann schaltet sein Gehirn auf den »Flanier-Modus«. Er ist entspannter und nimmt Inhalte anders auf.
Was läuft beim Lesen in unserem Gehirn ab? Warum fördern gedruckte Texte die Konzentration? Darüber berichtet Volker Kitz in seinem Gastbeitrag im Spiegel aus eigenen Forschungen und der »Stavanger Erklärung: Zur Zukunft des Lesens«.
Bravourleistung unseres Gehirns
Volker Kitz: Während Sie diese Worte lesen, passiert mindestens all das: Ihre Augen fließen nicht über die Zeilen, sie springen in sogenannten Sakkaden, bis zu viermal pro Sekunde. In einem ausgefuchsten System fixieren sie bestimmte Stellen, meist ein wenig links der Wortmitte. Dort verharren sie ungefähr eine Viertelsekunde, nehmen zu beiden Seiten nur wenige Buchstaben wahr – mehr können die Augen aufgrund ihrer Bauweise nicht scharf stellen.
Die Kombination dieser Buchstaben vergleicht Ihr Gehirn mit gespeicherten Mustern. Es erkennt Worte, behält einige davon im Kurzzeitgedächtnis, während die Augen weiterspringen. Es bringt die Worte im Satz in ein Verhältnis zueinander und entschlüsselt eine in Zeichen codierte Aussage.
Was wir kurzerhand »lesen« nennen, ist eine Bravourleistung unseres Gehirns. Dieser komplexe Ablauf will gelernt sein. Schulkinder üben das Vorlesen. Ein Drittklässler liest etwa hundert Wörter pro Minute. Erwachsene, die selten lesen, steigern diese Geschwindigkeit kaum. Wer regelmäßig Bücher liest, schafft um zweihundertfünfzig Wörter pro Minute.
Papier fördert Konzentration und Information
Nur mit Konzentration erfassen wir den Inhalt eines längeren Textes. Das gilt für die Informationen und Thesen eines Sachbuchs ebenso wie für die fremde Welt eines Romans. Seine Komplexität macht das Lesen zu einer Mischung aus Konzentrationsübung und Konzentrationstest: Wer oft zurückspringen muss, einen Absatz, ein Kapitel von vorn beginnen, hat einen Hinweis darauf, dass Konzentration fehlt.
Dabei gibt es Unterschiede zwischen analogen und digitalen Texten. Sie trainieren verschiedene Fähigkeiten. Am größten sind die Unterschiede bei Sachtexten.
Möchten wir Informationen aufnehmen, fällt uns die Konzentration leichter, wenn wir den Text gedruckt auf Papier vor uns haben. Der visuelle Eindruck einer starren Seite hilft der Orientierung, und wir merken uns besser, was wir gelesen haben. Deshalb fördern längere Texte auf Papier eher die Konzentrationsfähigkeit als digitale Texte. Am Bildschirm dagegen schärfen wir eher unsere Fähigkeit zu Suche, Navigation und Personalisierung, wichtige Kompetenzen, um uns in der digitalen Welt zurechtzufinden. Am besten trainieren wir unsere Fähigkeiten also, indem wir elektronische und gedruckte Texte im Wechsel konsumieren.
Je komplexer die Botschaften und Informationen, desto wichtiger ist Text. Text braucht Konzentration, damit die Informationen kleben bleiben. Für die Öffentlichkeitsarbeit und Werbung unserer Kunden ist der gedruckte Text nach wie vor wichtig – gerade auch als Ergänzung zu aufmerksamkeitsstarken Bildmedien und digitalen Formaten.
Glossar:
Stavanger Erklärung: Zur Zukunft des Lesens (2018)
Bildschirme und bedrucktes Papier sind als Lesemedien nicht gleichwertig: Mehr als 130 Leseforscher aus ganz Europa haben eine Erklärung zur Zukunft des Lesens im Zeitalter der Digitalisierung unterzeichnet.
Link u.a.: lesen.bayern.de/transferwissenschaft-praxis/
Volker Kitz studierte Psychologie und promovierte in Jura. Er forschte am heutigen Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb und ist Autor mehrerer Bestseller.
Texte: Aus Gastbeitrag von Volker Kitz ; Spiegel Job&Karriere Arbeitswelt im Wandel; 14. Dezember 2021
Gefunden und gelesen: von Martin Rzeppa
Buchtip: Volker Kitz »Konzentration – Warum sie so wertvoll ist und wie wir sie bewahren«.
Verlag: Kiepenheuer&Witsch
Foto: AnimalTofu, Selbstunterricht CC BY-NC-ND 2.0 Lizens