Das ist wahr. Bedenkt man, das Wörter wie »Geringverdiener« oder »Mindestlohn« schon abschätzig klingen und wohl auch so wirken, sind ähnliche Worte wie »Leiharbeitnehmer«, die von der Zeitarbeitsindustrie als »Zeitarbeitnehmer« tituliert wurden, kommen neue Begriffe wie »Leasing-Arbeitnehmer« jetzt ins Spiel. Deutlich wird die geringe Wertschätzung für die Menschen. Autos kann man leasen, dann bekommt man einen neuen Wagen. Das soll wohl bei den »Leasing-Arbeitnehmer« auch suggeriert werden. Aus diesem Grund fand ich das Interview mit Constanze Spieß sehr spannend.
Die Germanistin Constanze Spieß über die bevorstehende Wahl zum Unwort des Jahres – und welchen Einfluss die Pandemie darauf hat.
Frau Spieß, was macht ein Wort zum Unwort?
Ein Unwort ist dann ein Unwort, wenn ein Ausdruck so gebraucht wird, dass er gegen das Prinzip der Menschenwürde oder der Demokratie verstößt. Wenn er einzelne gesellschaftliche Gruppen diskriminiert oder aber euphemistisch, verschleiernd oder irreführend verwendet wird. Das sind unsere vier Kriterien für ein Unwort.
Reden wir über die »Macht« des Wortes: Was kann ein Wort wirklich ausrichten?
Wir müssen uns klarmachen, dass wir mit dem, was wir sagen, auch handeln. Wir können mit Sprachgebrauch Dinge in der Welt verändern, wir können Menschen loben, aber genauso gut beleidigen. Indem wir ein Lob oder eine Beleidigung aussprechen, vollziehen wir das auch schon. Man spricht hier auch vom sprachlichen Handlungspotenzial. Mit Sprache kann man dementsprechend einerseits Wirklichkeiten erzeugen, andererseits kann sich aber auch die erfahrene Wirklichkeit auf den Sprachgebrauch auswirken. Sprache und Wirklichkeit stehen somit in einem gegenseitigen Bedingungs- und Abhängigkeitsverhältnis.
Das passiert nicht immer bewusst.
Nein. Wir werden in unseren Sprachgebrauch sozialisiert. Kinder lernen schon im zarten Alter mit ihrem Spracherwerb, sich pragmatisch, also mit Sprache handelnd zu verhalten. Insofern werden wir in diese Sprachpraktiken oder kommunikativen Praktiken sozialisiert und vieles passiert natürlich unbewusst.
Wie können wir uns den Hintergründen unserer Wortwahl bewusster werden?
Nicht selten thematisieren wir Sprachgebrauch. Das geschieht im privaten Bereich genauso wie im öffentlich-politischen Bereich. Bereits kleine Kinder diskutieren darüber, welcher Sprachgebrauch in ihrer Lebenswelt passend ist, was etwas bedeutet oder wie man bestimmte Ausdrücke gebraucht. Im öffentlichen Bereich wird etwa bei der Wahl des Unwortes des Jahres in einem öffentlichen Diskurs darüber gesprochen oder diskutiert, ob ein bestimmter Ausdruck überhaupt ein Unwort ist oder eher nicht. Dafür kann man sensibilisiert werden. Aber auch indem ich mir klarmache, dass ich mit meinem Reden etwas bewirken beziehungsweise anrichten kann. Dass ich beispielsweise Personen nicht korrekt anspreche, nicht angemessen anspreche, oder dass ich durch meine Ansprache jemanden ausschließe. Sich darüber klar zu werden, ist ein Prozess, und man kann lernen, darüber zu reflektieren.
Zeichnet sich in der Hinsicht eine Entwicklung ab?
Die Thematisierung des Sprachgebrauchs spielt im öffentlichen Diskurs schon eine große Rolle. Gerade auch, was die Corona-Pandemie angeht, ist zu bemerken, dass der Sprachgebrauch immer wieder thematisiert wird. Der Duden hat gemeldet, dass es durch die Corona-Pandemie zu sehr vielen neuen Wortbildungen kam, zum Beispiel ist boostern zu einem sehr frequent gebrauchten Wort geworden, bedingt durch die Situation. Es zeigt sich auch hier, wie kreativ Sprache sein kann. Nehmen wir beispielsweise die Wortbildungen, die zwar nicht neu in unsere Sprache hineingekommen sind, aber frequenter gebraucht wurden, zum Beispiel Impfskeptiker, Impfpflicht. Daran sieht man sehr schön, dass sich in der Sprache auch gesellschaftliche Dynamiken und Veränderungen manifestieren.
Für das Unwort kann jede:r Vorschläge einreichen. Wie treffen Sie die Auswahl?
Wir schauen uns alle Einreichungen an, dieses Jahr sind es bisher ein bisschen über 1000. Da sind viele Einreichungen dabei, die nicht unseren Kriterien entsprechen. Das sind dann keine Kandidaten für Unwörter mehr. Die Übriggebliebenen schauen wir uns dann im Hinblick auf die Unwortkriterien an. Uns ist ganz wichtig, dass jeweils eine Quelle benannt wird, wo dieses Wort aufgetaucht ist, und eine Begründung, warum es sich um ein Unwort handelt. Teilweise muss man nachrecherchieren, ob das auch tatsächlich so verwendet wurde. Anschließend diskutieren wir darüber. Wenn ein Wort besonders häufig eingesendet wird, muss das nicht heißen, dass es gewählt wird. Für uns sind die qualitativen Merkmale sehr viel zentraler.
Gab es bisher kontroverse Vorschläge für Unwörter?
Als Unwort wurde unter vielen anderen Vorschlägen der Genderstern vorgeschlagen, aber auch das Wort Missbrauch. Daran sieht man, dass zum einen unterschiedliche Themen relevant und brisant diskutiert werden und dass verschiedene gesellschaftliche Gruppierungen Vorschläge einreichen. Wichtig ist uns bei den Einreichungen, dass eine Begründung für den Vorschlag mitgeliefert wird, weshalb beispielsweise der Ausdruck Gendersternchen oder Missbrauch gegen einzelne gesellschaftliche Gruppen diskriminierend verwendet wird oder inwiefern der Gebrauch des Ausdrucks euphemistisch ist oder gegen das Prinzip der Menschenwürde oder der Demokratie verstößt.
Warum sollte man jetzt noch Vorschläge einreichen?
Uns ist wichtig, dass auf Sprachgebrauch, der den Kriterien eines Unwortes entspricht, aufmerksam gemacht wird. Wir verstehen uns als aufklärerische Institution. Wir möchten nichts vorschreiben oder verbieten. Wir wollen einfach zeigen, dass mit sprachlichen Mitteln ungute Dinge bewirkt werden können. Das zeigt sich auch aktuell in der gesamten Situation der Pandemie: Der Konsens darüber, was öffentlich zu sagen noch akzeptabel ist, ist brüchig.
Zum Beispiel?
Nehmen wir die Querdenker-Bewegung als Beispiel, die sich einerseits teilweise gewalttätigen Sprachgebrauchs bedient, sich andererseits selbst als Opfer stilisiert, indem Akteur:innen der Querdenker-Bewegung behaupten, dass es keine Meinungsfreiheit mehr gebe oder indem sie sich als Symbol einen gelben Stern mit der Aufschrift ‚ungeimpft‘ anheften. Durch diese Art und Weise zu kommunizieren, verhöhnen sie den Holocaust. Für ein demokratisches Zusammenleben sind solche Mechanismen gefährlich. Aus dem Grund ist es wichtig, auf menschenunwürdige, antidemokratische Sprechweisen, auf verbale Diskriminierung oder aber auch auf Irreführungen, also Euphemismen, aufmerksam zu machen. Es geht uns darum, aus einer linguistischen Perspektive zu zeigen, wie solche Mechanismen sprachlich funktionieren. Dann kann sich jede:r selbst sein Urteil darüber bilden und vielleicht oder hoffentlich dadurch auch ein bisschen sensibler im Hinblick auf die eigene Sprachverwendung werden.
Aus: Frankfurter Rundschau vom 23. Dezember 2021
Interview: Clara Gehrunger
Zur Person: Constanze Spieß ist Professorin für Pragmalinguistik am Institut für Germanistische Sprachwissenschaft an der Philipps-Universität in Marburg. Sie ist Mitglied der »Unwort«-Jury.
Zusammengetragen von: Michael Rasch