…und funktionierender Teams

Michel Friedman: Der Journalist und Jurist über die Kunst der fruchtbaren Debatte 
In öffentlichen und privaten Zusammenhängen verändert sich die Streitkultur und Debatten, Diskussionen und Diskurse werden zunehmend schwierig und teilweise sogar unmöglich. Die letzten thematischen Beispiele sind Covid-19, Trump und der Krieg Russlands gegen die Ukraine. Dabei sind Kommunikation und Konfliktmanagement wesentliche Bestandteile einer funktionierenden Demokratie und guter Teams bzw. Organisationen – und die Voraussetzung für eine konstruktive und zielführende Entwicklung.

Herr Friedman, Sie haben ein Plädoyer für den Streit geschrieben, und man darf wohl sagen, dass Sie als streitbarer Mensch gelten. Fassen Sie das als ein Kompliment auf?
Michel Friedman: Ja, ich empfinde das als Kompliment. Ein streitbarer Mensch ist neugierig, er gibt dem Zweifel, auch dem Selbstzweifel genug Raum. In dem Moment, in dem man fragt: »Warum?« beginnt der Streit. Denn man stellt mit dieser Frage eine Position streitig. Ins Politische übertragen: Streiten ist der Sauerstoff der Demokratie. Das Selbstverständnis der Meinungsfreiheit enthält die Handlung des Streitens um Positionen. Dieses Ringen um Meinungen, um Zweifel und Begründungen hält den Menschen und hält die Gesellschaft lebendig.

Es gab eine Talkshow mit dem Titel »Vorsicht! Friedman«. Da haben Sie Ihre Gäste teilweise in die Zange genommen. Ihrer Streitlust waren nicht alle gewachsen.
Michel Friedman: Intensives Nachfragen, aber auch konzentriertes Zuhören gehören zum Beruf des Journalisten. Mit konzentriertem Zuhören meine ich nicht nur die Aktivierung eines Sinnesorgans, sondern auch das Mitdenken. Die Personen, bei denen ich hartnäckig nachfrage, sind Berufspolitikerinnen und Berufspolitiker. Sie haben Rede und Antwort zu stehen. Wenn mir eine Antwort nicht ausreichend zu sein scheint, wenn sich ein Widerspruch auftut, wenn Pseudoargumente ins Feld geführt werden oder wenn ich weiterhin Zweifel habe, hake ich nach. Das ist kein In-die-Zange-nehmen, um jemanden zu triezen, sondern ein Ausdruck von Respekt und Interesse. Man darf auch nicht vergessen, dass die Ministerin oder der Generalsekretär eine Talkshow besucht, um die Zeit für sich zu nutzen und eine Botschaft loszuwerden. Also ringen wir miteinander, weil wir unterschiedliche Interessen haben.

Sie schreiben aber auch, dass die Sehnsucht nach Konsens nachvollziehbar sei und: »Auch ich hätte ab und zu gerne mal meine Ruhe und würde gern ein bisschen mehr gemocht werden«.
Michel Friedman: Intensive Debatten und Streit ist nicht immer sympathiefördernd, aber ich habe schon vor langer Zeit eine Entscheidung getroffen: Ich passe mich nicht an, um Sympathien zu bekommen. Ich trete lieber für eine Haltung ein und werde nicht gemocht als umgekehrt.

Haben Sie schon einmal eisern verteidigte Positionen als Ergebnis einer engagierten Debatte geräumt?
Michel Friedman: Aber ich bitte Sie: selbstverständlich.

Gibt es ein Beispiel?
Michel Friedman: Ich habe mich mit Sicherheit in den Jahren 2000 bis 2010 in der Interpretation der nötigen Maßnahmen gegen den Klimawandel deutlich bewegt. Das ist eine Folge der politischen Debatte als auch des Studierens wissenschaftlicher Erkenntnisse. Ich habe mich weiterentwickelt. Das wäre nicht geschehen, wenn ich nicht zweifeln würde, auch an meinen eigenen Positionen. Auch durch die Begleitung meiner beiden Kinder entwickele ich mich fortwährend weiter, auch in Diskussionen mit ihnen habe ich schon viel gelernt und Positionen revidieren müssen.

Sie schreiben, Deutschland sei quasi ein Entwicklungsland, was den konstruktiven Streit betrifft. Warum?
Michel Friedman: In Deutschland ist der Streit nach 1945 als unangebracht empfunden worden. Von den 1950er- bis in die 1990er-Jahre gab es biografische Schweigespiralen – heftige Diskussionen vergrößerten das Risiko, über Dinge reden zu müssen, die man lieber totschweigen und unter dem Deckmantel der Verdrängung verbergen wollte. Viele der heute 60-Jährigen bekommen immer noch einen Muskelkater, wenn um bestimmte Fragen härter gerungen wird. Aber es tut sich etwas: Die Bevölkerung ist pluraler und bunter geworden, die digitale Revolution hat den Meinungsaustausch massiv verändert. Einerseits werden Diskussionen durch weit gestreute Fake News vergiftet, andererseits sind Informationen heute besser und schneller nachprüfbar denn je. Das verändert die Diskussions- und Streitkultur.

Waren die Defizite der Deutschen in Sachen Streitkultur der Anlass für Ihr Plädoyer? Ist es eine Aufforderung zum Streit?
Michel Friedman: Auch, aber mein Motiv war noch ein anderes: Wir stehen als Gesellschaft vor der Herausforderung, die erste Hälfte des 21. Jahrhunderts zu verhandeln. Diese Verhandlungen sind substanziell. Sie drehen sich um die Fragen: Was ist Demokratie? Was sind Meinungs- und Freiheitsrechte? Welche Folgen hat die digitale Revolution? Wie sollen Arbeitsplätze der Zukunft aussehen? Wie wichtig ist uns die Umwelt? Wie sieht die globale geostrategische Situation aus? Die Vorstellung von den USA als alleinige Schutzmacht für das freie Europa passt nicht mehr in die heutige Zeit. Europa muss sich auch selbst für seine Verteidigung einsetzen. Wie positionieren wir uns zu Russland, Syrien und China? Diese Fragen müssen verhandelt werden, über es muss diskutiert und gestritten werden. Wir hängen etwa 20 Jahre hinter unserem Zeitplan her, deshalb habe ich das Buch geschrieben. Das gepflegte Gespräch eignet sich für diese Fragen eher nicht, es muss mit Herz und Verstand gestritten werden. Streiten bedeutet Fortschritt, schweigen bedeutet Rückschritt.

Sie treten dafür ein, dass Streiten in der Schule gelehrt wird.
Michel Friedman: Ja, ich bin der Meinung, dass Streiten von der Grundschule an Teil des Lehrplans sein sollte. Streiten will gelernt sein. Zum Streit gehört die Vernunft, das Argument, aber auch eine emotionale Ebene. Damit ist nicht der Affekt gemeint, das heißt nicht, dass man beleidigend, zynisch oder persönlich wird. Lernt und übt man den Streit, kann man heftig miteinander diskutieren, aber anschließend diese Ebene wieder verlassen und freundschaftlich ein Glas Wein oder Wasser miteinander trinken. Wer streiten nicht gelernt hat, steht in der Gefahr, einen Streit mit einer persönlichen Auseinandersetzung zu verwechseln. 

Man kann sich vorstellen, dass man des Streitens einmal müde wird. Beispielsweise mit Corona-Leugnern oder womöglich in Ihrem Fall mit Antisemiten.
Michel Friedman: Die Voraussetzung eines Streits ist die gegenseitige Anerkennung. Wenn mich mein Gegenüber nicht als Mensch respektiert – Sie haben das Thema Antisemitismus angesprochen –, kann ich nicht mit ihm streiten. Ein Streit setzt das Dialogische voraus. Wenn zwei Menschen Monologe halten, die neue Monologe verursachen, ist das keine Diskussion. Eine weitere Voraussetzung für eine streitige Diskussion ist die Anerkennung von Tatsachen. Wenn wir uns nicht auf dem Boden von Fakten bewegen, wie man es in den vergangenen Jahren bei Populisten erlebt, vor allem auch bei Donald Trump, kann auch keine Diskussion zustande kommen. Eine Lüge ist kein Argument, sondern eine Lüge. Man kann mit Antidemokraten und Rassisten in Kontakt treten, aber mit ihnen streiten kann man nicht. An solchen Missverständnissen, an der Forderung, sich mit der AfD zu streiten, kann man schon müde werden. Alles andere macht mich nicht nur nicht müde, sondern je älter ich werde desto wacher. 

Wie soll man sich mit jemandem auseinandersetzen, der behauptet, das Coronavirus sei nicht gefährlicher als ein Grippevirus? 
Michel Friedman: Man beruft sich auf den heutigen Stand der Wissenschaft. Glauben ist kein Wissen, es ist sehr schwierig, sich mit Menschen auseinanderzusetzen, die Tatsachen negieren. Damit ist einer ernsthaften Diskussion die Grundlage entzogen. Sie braucht diesen gemeinsamen Boden, der selbstverständlich zu sehr unterschiedlichen Schlüssen und Positionen führen kann.

Eine der jüngsten Folgen Ihrer Talkshow »Open End« drehte sich um das Thema Antisemitismus. Gleich eingangs stellen Sie fest: »Nach der Befreiung von Hitler hieß es ,Nie wieder‘. An keinem Tag ist seitdem dieses Versprechen gehalten worden, in unserem Land.« Haben Sie den Eindruck, dass sich der Judenhass in den vergangenen Jahren verstärkt hat?
Michel Friedman: Antisemitismus hat eine Tradition, ist eine strukturelle Realität in unserem Land. Das Thema ist also nie neu gewesen, es hat diese Gesellschaft in furchtbarer Kontinuität begleitet. Er ist in unserer Kultur verankert und wird von Generation zu Generation weitergegeben. Inzwischen treffen verschiedene antisemitische Strömungen aufeinander, von rechter, von linker sowie von radikalislamistischer Seite, der oft auch mit Israelhass verbunden ist. Dazu möchte ich gleich sagen, dass ich Israelkritik von Antisemitismus zu trennen weiß und selbst ein großer Kritiker von Benjamin Netanjahu bin. Aber ich war auch ein großer Kritiker von Trump und wäre dennoch niemals auf die Idee gekommen, dass man die USA von der Landkarte streichen sollte. 

Gefunden von: Axel Janzen
Weser Kurier, 13. Juni 2021