VON STEFANIE SIPPEL

Betreibt Ministerin Julia Klöckner bei ihrer Anti-Zucker-Kampagne Marketing? Ja, sagt Sascha Raithel, Professor für Marketing in Berlin. Ein Interview über das Gedächtnis der Kunden – und Grauzonen der Politik.

Herr Raithel, die Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft Julia Klöckner hat mit dem Deutschland-Chef von Nestlé ein gemeinsames Video gedreht, in dem sie von »weniger Zucker, weniger Salz, weniger Fett in den Produkten« spricht, »die die Bürger gerne mögen«. Ist das Marketing?
Ja, im Marketing nennen wir das ein klassisches Endorsement. Das Wort kommt aus dem Englischen und bedeutet Unterstützung oder Sponsoring. Ein Beispiel sind Sportler, die ihre Prominenz nutzen, um für eine Marke zu werben. Sie sind Werbebotschafter, die im klassischen Sinne einen Vertrag haben und sich für ihre Werbung von einem Unternehmen bezahlen lassen.

Nun hat Frau Klöckner kein Geld dafür bekommen.
Ja, aber trotzdem steht sie außerhalb des Unternehmens Nestlé und tritt als Fürsprecherin auf. Das macht es schon zu einer Form des Endorsements. Natürlich darf man bei solchen Fällen die Rahmenbedingungen nicht außer Acht lassen. Wenn ein Politiker eine Rede hält und verschiedene Beispiele nennt, auch Unternehmen, dann ist das kein Endorsement. Aber wenn ein Video extra produziert wird und keine anderen Unternehmen genannt werden, dann entsteht für den Betrachter ein anderer Eindruck.

Was kann das für Effekte haben?
Das ist noch schwer abzusehen. Klar ist aber, dass das Video sich rasend schnell verbreitet hat, obwohl die Kritiker des Videos das vermutlich gar nicht beabsichtigt haben. In der Wissenschaft spricht man auch vom »Barbra Streisand Effekt«.

Was hat es damit auf sich?
Die Schauspielerin Barbra Streisand hat sich vor Jahren darüber beschwert, dass Google hochauflösende Aufnahmen von Häusern zeigt, auch von ihrer Villa. Das hatte zur Folge, dass genau das Gegenteil von dem passiert ist, was sie wollte: Die Öffentlichkeit wurde auf das Bild aufmerksam, und alle haben sich ihr Haus angeschaut. Genauso schnell hat sich durch die öffentliche Diskussion das Video über Julia Klöckner und Nestlé verbreitet.

Welche Folgen hat das für Nestlé?
Frau Klöckner lobt in dem Video, dass das Unternehmen die Menge von Zucker, Salz und Fett in seinen Produkten gesenkt habe. Aus Marketing-Sicht hat das für Nestlé vergleichbare Effekte wie ein bezahlter Werbespot mit großer Reichweite.

Daran gab es sehr viel Kritik. Ist das für das Unternehmen trotzdem positiv?
Interessanterweise gibt es Studien dazu, dass Informationen, die im ersten Moment sehr negativ wirken, langfristig nicht als so negativ bei den Konsumenten abgespeichert werden. Auch wenn es viel kritische Berichterstattung gibt.

Das heißt, in einem halben Jahr könnte sich das Video für Nestlé trotzdem positiv ausgewirkt haben?
Ja. Es könnte sein, dass Menschen in einem halben Jahr im Supermarkt stehen und zum Nestlé-Produkt greifen. Sie haben die Kontroverse um Klöckner dann gar nicht mehr im Kopf. Das Thema ist ja doch kompliziert. Gespeichert haben sie eventuell eher die einfache und positive Nachricht: Nestlé steht für weniger Zucker, weniger Salz.

Warum ist das so?
Menschen wollen mental einen ausgeglichenen Zustand erreichen und nicht permanent negative Emotionen empfinden. Dann geraten sie mental aus dem Gleichgewicht. Daher wird auch immer gesagt: Früher war alles besser. Menschen speichern die Vergangenheit meist positiver ab als sie war. Das ist ein bekanntes Phänomen.

Aber es gibt doch sicher auch Menschen, die das Video negativ abspeichern?
Das hängt davon ab, wie genau der Betrachter die Botschaft analysiert. Wenn jemand denkt, das finde ich moralisch und ethisch fraglich und sich intensiv mit dem Thema auseinandersetzt, wird er die Nachricht auch negativ abspeichern. Das machen aber sicher nicht alle, sondern speichern langfristig nur die einfache, direkte Botschaft ab. Im Grunde ist Nestlé ein PR-Coup gelungen.

Youtuber, unter anderen Rezo, kritisieren, dass Frau Klöckner das Video als Werbung hätte kenntlich machen müssen. Wie sehen Sie das?
Da gebe ich den Youtubern Recht: Frau Klöckner hätte es vom Grundsatz her kenntlich machen müssen. Es ist ein professionell aufgenommenes Video mit einer klaren Botschaft zugunsten eines Unternehmens. Somit müsste deutlich gemacht werden, dass das Video »Produktplazierungen« enthält. Beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist das ja nicht anders. Da kann man außerhalb des kenntlich gemachten Werbeblocks auch nicht so ohne weiteres die Neutralität aufgeben und ausgewählte Produkte loben.

Sascha Raithel ist Professor für Marketing an der Freien Universität Berlin.

Text: werben und verkaufen
Foto: Bundesministerium MEL