Mercedes-Benz setzt voll auf TikTok. Weshalb, welcher Content zieht und warum Creatoren wichtig sind: Gespräch mit Markenchefin Bettina Fetzer, den TikTokern Herr Anwalt, Younes Zardou sowie Agenturchef Adil Sbai.

Premiere für den zweiten Avatar-Blockbuster ist erst im Dezember 2022. Mercedes-Benz war früher dran mit seiner Neuvorstellung. Im Sommer dieses Jahres präsentierte der Autobauer in einem Event das dazugehörige Filmfahrzeug, den Vision AVTR. Mit dabei: die TikToker Younes Zardou und Herr Anwalt. Beide haben  einen persönlichen Bezug zur Traditionsmarke. So kam Herr Anwalt samt Vater mit dessen »Pageode« angereist, Younes hatte sich den GLA seiner Mutter ausgeborgt. Das Duo drehte in Folge rund 20 Videos, die es auf TikTok zu Millionen Aufrufen und Likes brachten. Welchen Stellenwert TikTok für die Marke mit dem Stern hat, was guten Content ausmacht und wie das Tauziehen zwischen den USA und China und die Kritik an der App empfunden wird: Darüber haben wir uns mit Mercedes-Markenchefin Bettina Fetzer, Younes und Herr Anwalt sowie Wecreate-CEO Adil Sbai unterhalten.

Frau Fetzer, Mercedes-Benz war als erster Autohersteller mit einem Kanal auf TikTok vertreten. Wie wichtig ist die Plattform für Sie heute?

Bettina Fetzer TikTok ist für uns als Marke Mercedes-Benz in kürzester Zeit eine wichtige Plattform in unserem Social Media Portfolio geworden. Seit einigen Jahren sprechen wir zunehmend die Generation Z und weitere junge Menschen an, die bislang wenig Affinität zur Marke hatten. Wir verfolgen bei Mercedes-Benz eine First-Mover-Strategie. Wann immer eine spannende Plattform relevant wird, wollen wir sie möglichst als Erste besetzen und ausprobieren. Wir sind zwar die traditionsreichste und älteste Automarke der Welt, aber keineswegs altmodisch. Das gelingt uns unter anderem deshalb, weil wir immer wieder Neues testen und auf eine sehr kreative Weise den Kontakt zu neuen Zielgruppen suchen. Seit gut einem Jahr sind wir nun auf TikTok präsent und lernen permanent dazu, erhalten so immer wieder kreativen Input, auf den wir sonst nicht gekommen wären. So bei dem Wettbewerb #MBStarChallenge, der sehr gut angenommen wurde.

Welche Learnings haben Sie gemacht?

Bettina Fetzer TikTok ist etwas anders als die klassischen Social-Media-Plattformen wie zum Beispiel Instagram. Dort geht es immer darum, das beste und möglichst perfekteste Bild zu generieren. Bei TikTok steht der authentische Moment im Vordergrund. Das kann manchmal auch etwas schräg sein, da darf man sich auch mal versprechen. Das Authentische macht uns als Marke nahbarer.

Adil Sbai Da gibt es ein gutes Beispiel von Herr Anwalt, der sich beim Mercedes-Event mit dem Vision AVTR beim Einsteigen den Kopf gestoßen hat. Das ist auch auf dem Video zu sehen. Es ist ein perfektes Behind-the Scenes-Video. Das kann schließlich jedem mal passieren. Dieser Clip hat ironischer Weise besser performt als ein anderes extrem aufwändig produziertes Hochglanzvideo über eine Zeitreise der Generation mit dem Vater von Herr Anwalt.

Herr Anwalt  Das ist wirklich so. Toll aufbereitete Videos mit Mega-Aufwand finden nicht denselben Anklang wie der eine lustige Augenblick. Es war Situationskomik. Und die kommt an bei TikTok. 

Authentizität, das Nicht-perfekte – was zeichnet TikTok sonst aus gegenüber anderen Plattformen?

Bettina Fetzer Das Kreative, wie man seine Kreativität auf TikTok ausleben kann. Dazu kommen noch die Funktionen, die es in dieser Form woanders nicht gibt. So werden dem User auch Themen vorgeschlagen, die nicht eins zu eins dessen Wünschen entsprechen. Das heißt für uns, dass wir auch Menschen für die Marke gewinnen können, die gar nicht daran gedacht hatten, sich mit einer Automarke zu verknüpfen.

Adil Sbai Im Prinzip ist der der größte Unterschied beispielsweise zu Instagram die Architektur der App. Sie führt dazu, dass User Inhalte sehen von Creatoren oder auch Brands, die sie noch nicht kennen. Das sorgt für mehr Viralität und Überraschungsmomente. Man weiß einfach nicht, was als nächstes folgt. Und das Auditorium ist natürlich deutlich jünger. Das öffnet Marken Tür und Tor, um langfristig zu planen. Aber der wichtigste Punkt ist die Kreativität. Storytelling hat bei TikTok größeres Potenzial als bei anderen Plattformen. Deshalb spielen auch Creator eine große Rolle, weil sie wissen, wie TikTok funktioniert und wie die Geschichten sein müssen, um zu begeistern, besonders in ihrer Community. Da musste sich auch Mercedes-Benz erst herantasten. Umso bewundernswerter ist, dass die Marke den Creatorn maximale Freiheit einräumt. Das trauen sich viele andere Brands nicht.

Herr Anwalt Was ich auf TikTok so schätze: Es gibt ein unheimliches Energielevel, das viel höher ist als bei Instagram, Facebook oder YouTube. Was dort stattfindet, ist relativ statisch. Aber bei TikTok werde ich regelrecht reingeworfen. Man kann beispielsweise ein Video sehen, wie ich einen juristischen Sachverhalt humorvoll aufbereite, scrollt dann runter und verfolgt im nächsten Moment ein Video, wie Younes einen Farbbeutel über seinem Gesicht platzen lässt. Das heißt: Der Algorithmus wählt auch Sachen aus, die ich mir normalerweise nicht unbedingt angesehen hätte. Das macht es spannend und bringt die Leute dazu, am Ball bleiben zu wollen.

Wie groß ist die kreative Freiheit denn wirklich? Wer gibt den Content vor?

Bettina Fetzer Wir geben Inhalte nicht vor. Wir schaffen Gelegenheiten. Dann stellen wir beispielsweise unser Showcar in einem Raum zur Verfügung und geben ein paar Erklärungen dazu, welche Gedanken wir uns zu dem Fahrzeug gemacht haben und welche Ziele wir verfolgen. Oder öffnen einfach nachts das Mercedes-Benz Museum. Alles Weitere bleibt den Creatoren überlassen.

Sbai Bei Mercedes-Benz galt es nur, die Corona-Bestimmungen einzuhalten. Aber es gab keine kreativen Vorgaben – man hat uns vertraut und das fühlte sich wertschätzend an. Natürlich darf man im Museum nicht auf einem Auto rumhüpfen, dass 300 Millionen Euro Versicherungswert hat, aber mehr auch nicht. Das ist für einen Creator ein echter Luxus, wenn er da nicht eingeschränkt ist.

Warum gerade Mercedes?

Herr Anwalt Das ist bei mir eine ganz witzige Geschichte. Mein Vater fährt einen alten SL 250, einen Oldtimer. Ich hatte auf Instagram ein Foto davon eingestellt. Das hat jemand gesehen und dachte sich, es wäre eine gute Story, wenn man den SL mit dem Vision VTR zusammenbringen könnte. Daraufhin transportierten wir den Oldie nach Baden-Baden und machten richtig schöne TikToks gemeinsam mit meinem Vater. Das war eine echte Generationengeschichte. Bei so einer Konstellation kommen die Ideen für das Storytelling von ganz alleine.

Younes Meine Eltern kommen aus Marokko. Dort hat die Marke Mercedes einen tollen Ruf. Mein Vater hat selbst einen W 123 gefahren, der mittlerweile mehr als eine Million Kilometer auf der Uhr hat. Und meine Mutter hat vier Jahre lang gespart, bis sie sich einen GLA kaufen konnte.

Was macht einen guten Creator aus?

Herr Anwalt Der wichtigste Punkt ist Sprache. Wir sind auf einer Plattform, auf der verbal und nonverbal kommuniziert wird. Als Creator muss ich wissen, wie die Gen Z spricht, wie ich sie ansprechen kann und welche Inhalte sie sehen wollen. Dazu gehört auch, wie ich mich bewege und welche Gimmicks ich benutze. Es gibt beispielsweise ganz verschiedene lustige Sprachcodes. So bedeutet ein Handtuch auf dem Kopf, dass man sich in eine Frau verwandelt. Das findet man als Erwachsener total absurd, wenn man das erste Mal auf TikTok geht. Aber das ist eine Sprache, die akzeptiert wird und über die man zeigt, dass man Teil der Community ist.

Younes Was jemand als ‚gut‘ empfindet, ist immer subjektiv, ich kann also nur für mich an dieser Stelle sprechen. Mir ist es sehr wichtig, dass sich Creator auch zu gesellschaftlich relevanten Themen äußern. Ich habe beispielsweise zu Beginn der Corona-Pandemie einen 30-tägigen Livestream gestartet, der rund um die Uhr zu sehen war, um den Usern klar zu machen, dass selbst Teenager zu Hause bleiben oder zumindest keinen Kontakt zu ihren Großeltern haben sollten. Mehr als zehn Millionen Menschen haben den Stream besucht.

Bettina Fetzer Auch wir haben als Marke unsere Reichweite auf TikTok dafür genutzt, um über die Pandemie aufzuklären. Es ist wichtig, gerade in dieser Zeit ein Publikum zu erreichen, das die klassischen Nachrichtenformate weitgehend ignoriert. Wir haben allerdings auch unsere Spendings zurückgefahren, als Facebook vor kurzem so richtig in der Kritik stand. Weil wir der Meinung waren, dass sich die Plattform in die falsche Richtung bewegt.

Seit Monaten ist TikTok wegen des Zwists zwischen Donald Trump und der TikTok-Mutter in China in den Medien. Auch in anderen Ländern wird TikTok sehr kontrovers diskutiert. Wie geht man als Creator damit um?

Herr Anwalt Es wäre für uns deutsche Creator extrem schade, wenn die amerikanischen nicht mehr dabei sein sollten. Dann geht ein unglaubliches Kreativpotenzial verloren. Ich werde immer wieder, auch als Anwalt, zu dem Thema gefragt. Aber ich tue mir schwer, den Sachverhalt richtig zu bewerten, weil mir die entsprechenden Informationen fehlen. Trump sagt das, TikTok etwas anderes. Dazu kann ich mich einfach nicht äußern.

Younes Ehrlich gesagt, verfolge ich diese Diskussionen nur am Rande. Mein Tag ist ausgefüllt, ich absolviere ja nebenbei noch ein Studium. TikTok ist in Europa und Asien sehr etabliert. Wäre schade ohne die USA, aber es wäre nicht der Untergang.

Sbai Es ist vor allem eine geopolitisch aufgeladene Debatte, bei der es wenige Beweise gibt. Zudem sehe ich durchaus eine positive Entwicklung. Nach gravierenden Fehlern zu Beginn der Kommunikation gab es keine weiteren größeren Skandale. TikTok hat sich entschuldigt und Besserung gelobt. Und seitdem ist auch einiges passiert. Die Kommunikation ist besser und auch beim Thema Jugendschutz ist die App nicht weniger konsequent als andere. Im Gegenteil. Zudem wandelt sich TikTok sukzessive zur Lernplattform. Es gibt bereits die Initiative Lernen mit TikTok. Sie will die Gen Z zu unterschiedlichen Themen informieren, mit Humor, aber inhaltlich anspruchsvoll. Die Idee dahinter ist gut.

Und was heißt das für Mercedes-Benz?

Bettina Fetzer Es versteht sich von selbst, dass wir bei solchen Plattformen immer unsere Legal- und Datenschutzbeauftragen hinzuziehen. Das gilt auch für TikTok. Wenn ein Datenschutzbeauftragter Bedenken äußern würde, dann wäre das für uns ein ganz klarer Cut. Ansonsten ist für uns die entscheidende Frage: Können wir das Vorgehen und die Inhalte mit unseren Werten als Marke vertreten? Und das können wir aktuell. Dennoch beobachten wir die Entwicklungen ganz genau.

Heute zählt der TikTok-Kanal von Mercedes-Benz rund 267.000 Follower und freut sich über gut 1,2 Millionen Likes. Inzwischen wurden rund 60 Videos hochgeladen. Zum Jahreswechsel 2019/2020 wurde die #MBStarChallenge gestartet. Unter dem Hashtag #MBStarChallenge wurde die TikTok-Community sieben Tage lang aufgerufen, den Mercedes-Benz-Stern auf ihre ganz eigene, einzigartige Weise nachzubilden und zu interpretieren – in Tanzeinlagen, Zeichnungen oder Zaubertricks, untermalt von einem maßgeschneiderten eingängigen Sound. Dabei haben TikTok Creatoren in UK und in Deutschland zusammengearbeitet. Am Ende zählte der Wettbewerb mehr als 73.000 Teilnehmer. Die Interaktionen (Likes, Comments, Shares) betrugen mehr als 23 Millionen. Die Zahl der Fans erhöhte sich während des Zeitraums um 40.000. Es wurden gesamt mehr als 185.000 Videos erstellt, die gut 180 Millionen Interaktionen bewirkten.

werben und verkaufen, Oktober 2020
Zusammengetragen von: Michael Rasch