Bildungsforscher Klaus Hurrelmann über die politisierte Jugend, Rebellion und die nötige Ausdauer für den Protest.

Herr Hurrelmann, sind Schüler heute doch viel politischer als gedacht? 
Ja, sie sind viel politischer als die über 20- und vor allem die über 25-Jährigen. Aus Studien, zum Beispiel der Shell-Jugendstudie, konnten wir das steigende politische Interesse schon herauslesen. Dass es aber zu einer richtigen Bewegung werden könnte, ist überraschend und wirklich bemerkenswert.

Woher kommt dieser Wandel? 
Ich kann das nur mit einem Aspekt interpretieren. Die über 20-Jährigen mussten nicht nur den 11. September 2001 und Fukushima, sondern auch noch die Weltwirtschaftskrise 2008 mit hoher Jugendarbeitslosigkeit bewältigen. Das hat diese Generation dazu gezwungen, sich zunächst mit ihrem eigenen Fortkommen zu beschäftigen, überhaupt erst mal sicherzustellen, dass sie in Arbeit und Beruf kommen. Das war auch in Deutschland keineswegs selbstverständlich.

Das ging den Jüngeren anders.
Genau. 2010 hat sich der Arbeitsmarkt gedreht. Die Jüngeren müssen gar nicht bange sein, dass sie in einen Ausbildungsberuf kommen. Das könnte der entscheidende Punkt sein: Diese nicht mehr auf die wirtschaftliche Existenz ausgerichtete Grundhaltung, die den Blick frei werden lässt für die Gesamtsituation, die großen Herausforderungen.

Warum engagieren sich die Schüler gerade für dieses Thema so sehr? 
Umwelt hat für junge Leute seit langem einen hohen Stellenwert, deutlich höher als in der älteren Generation. Dieses Thema scheint für die jungen Leute auch gefühlsmäßig – und das ist für sie eine wichtige Dimension – eindeutig an der Spitze zu stehen.

Bei früheren Jugendprotesten ging es meist auch um Rebellion. Jetzt lobt sogar die Kanzlerin die Schüler. Ist Abgrenzung nicht mehr wichtig?
Das kann man nicht sagen. Die Schüler haben zwei provokative Elemente eingebaut: Sie verstoßen gegen Gesetze, indem sie streiken. Und sie wenden sich gegen die ältere Generation, in einem deutlich aggressiven Ton. Sie werfen den älteren Politikern vor, dass sie die Weichen falsch gestellt, Entscheidungen der Zukunft nicht getroffen und nicht an die Jüngeren gedacht haben. Da sind zwei echte Abgrenzungen drin. Die Älteren müssen sich darauf einrichten, dass wir es hier wieder mit einer aufmüpfigen Generation zu tun haben.

Welche Ausdauer trauen Sie den Schülern zu? 
Ich bin bisher überrascht, dass die jungen Leute überhaupt schon so lange durchgehalten haben. Es geht ja schon drei Monate. Um sich zu verstetigen, braucht diese Bewegung nun verbündete Ereignisse, die ihre Ziele noch dringlicher erscheinen lassen. Erkenntnisse, wie Wetter- und Umweltkatastrophen etwa, führen dazu, dass wir eine spürbare massive Erwärmung mit katastrophalen Folgen haben. Dann könnte ich mir vorstellen, dass sich die Basis für die Bewegung verbreitert.

Interview: Thorsten Fuchs
Erschienen: Frankfurter Rundschau, 15. März 2019
Foto: dpa

Zur Person: Klaus Hurrelmann, 75, ist Bildungsforscher und gilt als einer der führenden Experten für die Jugend in Deutschland. Er untersucht seit vielen Jahren die politischen Einstellungen Jugendlicher und arbeitet an der Erstellung der auf diesem Feld viel beachteten Shell-Jugendstudien mit. Seit 2009 forscht er als Professor of Public Health and Education an der Hertie School of Governance in Berlin.