Ein Gastbeitrag von Anne Goldenbogen

Gute Arbeit – das war und ist gewerkschaftliches Kerngeschäft. Mit der Betonung auf »gut« schien die Abgrenzung von Neoliberalismus und Arbeitgeberlager lange Zeit deutlich genug, deren Credo nach wie vor »Hauptsache Arbeit« lautet. Und es war mehr als richtig, die Arbeitsgestaltung zurück auf die Tagesordnung zu holen, den Kampf um faire Löhne und gute Arbeitsbedingungen zu revitalisieren.

Jetzt allerdings steht die Gesellschaft – und zwar die Weltgesellschaft – vor einer Herausforderung, die existenzieller ist, als wir es uns vorstellen wollen. Während im Zuge der Digitalisierungs- und Transformationsdebatten noch darüber gestritten wird, wie die infolge enormer Produktivitätsgewinne drohenden Arbeitsplatzverluste abzuwenden oder auszugleichen sind, stellt die Ökologie uns vor eine viel grundlegendere Aufgabe: Wir brauchen einen nachhaltigen Plan für unser aller Zukunft. Sonst hat nämlich in absehbarer Zeit überhaupt niemand mehr eine.

Die Wachstumsideologie ist nach wie vor wirkmächtig, hat aber profunde Kritiker:innen gefunden. Dabei geht es im Grunde um die Frage, wie wir als Gesellschaft es schaffen können, Produktion, Zirkulation und Konsum sowohl sozial als auch ökologisch zu gestalten. Die Soziologin Silke van Dyk stellte in einem Interview mit der »taz« fest, dass Verzicht allein keine Systemalternative ist. Wichtig sei vor allem die politische Gestaltung einer Postwachstumsgesellschaft: »Es muss eine solidarische Ökonomie geben, die nicht auf kontinuierliche Steigerung angelegt ist; der Abbau sozialer Ungleichheit ist hierfür ein notwendiger Schritt. Und dann geht es darum, differenzierter zu schauen: Was darf wachsen (zum Beispiel soziale Dienstleistungen), und was soll schrumpfen (zum Beispiel Kohleenergie oder Verkehr)?«

Auch im Hinblick auf die Klimakrise gilt, was aktuell in der Corona-Pandemie deutlich geworden ist: Die Krise trifft zwar alle, aber nicht alle gleich. Die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung sind für 49 Prozent der weltweiten Emissionen verantwortlich. Sie haben allerdings auch weitreichende Möglichkeiten, sich vor den Folgen zu schützen. Zumindest kurzfristig. Die direkten Konsequenzen tragen andere – diejenigen, die gar nichts haben, im globalen Süden, die bereits heute den verheerenden Folgen der Klimaveränderung ausgeliefert sind. Und perspektivisch auch diejenigen, auf deren Rücken die anstehende ökologische Transformation ausgetragen wird, u.a. die Beschäftigten in den klimagefährdenden Branchen.

Es braucht also eine sozial-ökologische Umorientierung der gesamten Gesellschaft. Diese Erkenntnis stellt jedoch vor allem die großen Industriegewerkschaften vor ein Dilemma: Ihre Organisationsmacht beruht in erster Linie auf der Organisierung von Beschäftigten in den bisherigen Schlüsselbranchen. Und damit auch ein gutes Stück ihrer Durchsetzungskraft und somit ihrer gesellschaftspolitischen Macht. Allen voran ist hier mit über 870.000 Beschäftigten (inklusive Zulieferer) die Automobilindustrie zu nennen. Die IG Metall organisiert in dieser Branche fast eine halbe Million Menschen, also gut ein Fünftel der knapp 2,26 Millionen Mitglieder. Gleichzeitig werden andere – ebenfalls von der IG Metall organisierte – Branchen aus einer sozial-ökologischen Transformation eher Gewinn ziehen, beispielsweise der Maschinenbau oder die Elektroindustrie.

Arbeit neu denken

Nun kann man in die Auseinandersetzung darüber einsteigen, welche Qualifizierungen für wen sinnvoll sind und wie die restliche Arbeitszeit verteilt wird. Man kann aber auch ein Stück weiter gehen und gemeinsam hinterfragen, ob das Konzept Arbeit, wie wir es heute verfolgen, überhaupt sinnvoll ist. Ist die Lohnarbeit, so wie wir sie kennen, tatsächlich das Ende der Geschichte? Oder können wir uns vorstellen, unsere Arbeit und damit unsere Leben radikal anders zu organisieren? Der amerikanische Philosoph Frithjof Bergmann sieht im Lohnarbeitssystem nur eine von vielen Möglichkeiten, Arbeit zu organisieren – und zwar eine »problematische«. Sein Konzept »New Work« (»Neue Arbeit«) verspricht den Menschen eine neue Form des Wohlstands und eine höhere Lebensqualität. Indem nämlich die durch Automatisierung und Digitalisierung erzeugten Produktivitätssteigerungen zu ihrem Vorteil genutzt werden: Kürzere Arbeitszeiten für alle und mehr Zeit für Teilhabe, Freund:innen und Familie sowie für »Arbeit, die man wirklich, wirklich will«. Zudem: Kritisches Überdenken des eigenen Konsums, Abschaffung sinnloser Produkte (Gebrauchswertorientierung) und regionale und kooperative Produktion von Gütern des täglichen Bedarfs.

Bergmann denkt visionär, aber vor einem realistischen Hintergrund und auf Basis gesammelter Erfahrungen: Schwerpunkt seines Wirkens war und ist seit vielen Jahrzehnten die Gegend um Detroit (Michigan) herum – dem ehemaligen Herzen der amerikanischen Automobilindustrie. Hier kam es auch zu einer aufsehenerregenden Zusammenarbeit mit General Motors: Um die in den 80er-Jahren drohenden Massenentlassungen abzuwenden, entwarf Bergmann für das General Motors-Werk in Flint eine spezielle Art der Teilzeitarbeit: Ein halbes Jahr arbeitete die eine Hälfte der Belegschaft, ein halbes Jahr die andere. In der jeweils freien Zeit erhielten die Arbeiter:innen die Möglichkeit, sich neue Beschäftigungsfelder zu suchen und mit Ideen selbstständig zu machen. Dazu richtete Bergmann ein Zentrum für Neue Arbeit ein, in dem die Beschäftigten beraten wurden. Und auch heute engagiert sich Bergmann für eine nachhaltige Umstrukturierung ehemaliger Industriebastionen. Was könnte es vor diesem Hintergrund bedeuten, in die Offensive zu kommen? Ist es eventuell hilfreich, die Welt zunächst von den Füßen auf den Kopf zu stellen, um sie anschließend auf die richtigen Füße setzen zu können? Wäre es denkbar, dass die Gewerkschaften sich dazu entscheiden, den Um- und teilweise auch Rückbau der Produktion proaktiv vorantreiben? Dass die Beschäftigten der Automobilindustrie die Konversion ihrer Arbeitsplätze selbst in die Hand nehmen, planen und forcieren?

Gewerkschaft neu denken

Die Krise der Gewerkschaften ist zentral damit verbunden, dass sie als professionelle Dienstleister:innen verstanden werden. Das steht im Widerspruch zu einer Selbstorganisierung der Beschäftigten. Allerorts werden Innovationen gefordert – aber häufig werden die Expert:innen, die Beschäftigten selbst, übersehen. Oder unterschätzt.

So steht im Hinblick auf eine stärkere Hinwendung zu sozial-ökologischen Forderungen oft die Befürchtung im Raum, die eigenen Mitglieder vor den Kopf zu stoßen, Austritte zu riskieren und damit die Organisation zu schwächen. Aber ist das tatsächlich der Fall? Haben vielleicht Teile der Belegschaften ein stärkeres Krisen- und Veränderungsbewusstsein ausgebildet, als ihnen zugetraut wird? Gibt es eventuell eklatante generationelle Unterschiede? Existiert unter Umständen zudem ein enormes Potenzial an Noch-Nicht-Mitgliedern, für das die ökologische Transformation eine entscheidende Rolle hinsichtlich des persönlichen Engagements spielt?

Der Datenreport 2021 für die Bundesrepublik Deutschland zeigt: Mehr als 40 Prozent der Bevölkerung machten sich 2019 große Sorgen um den Schutz der Umwelt und die Folgen des Klimawandels. Mehr als zwei Drittel waren bereit, für den Schutz des Klimas Abstriche beim persönlichen Lebensstandard hinzunehmen. Knapp ein Viertel der Jugendlichen in Deutschland hat 2019 an Demonstrationen der Fridays-for-Future-Bewegung teilgenommen.

Zeit also, sich von einer statischen und eindimensionalen Vorstellung bezüglich der Interessen von Gewerkschaftsmitgliedern zu verabschieden. Die Wahrnehmungen, Bedürfnisse und Interessen sind vielfältig und dynamisch. Und werden zudem durch Lernprozesse und die Eröffnung von Erfahrungsräumen geprägt. Vielleicht ist dagegen vielmehr die Institutionalisierung der Organisation – Mitgliedschaft, Gremienarbeit, Hierarchien – kritisch zu betrachten. Vielleicht müssen Beteiligung und Partizipation neu gedacht werden – basisdemokratisch, radikal offen, digitale Räume und Möglichkeiten aktiv einbeziehend, als Auf- und Ausbau von Netzwerken. Denn, um tatsächlich erfolgreich zu sein, kann es perspektivisch nicht allein um gewerkschaftliche Konzepte gehen, sondern muss die Kooperation unterschiedlicher sozial-ökologischer Bewegungen im Mittelpunkt stehen.

Raus aus der Defensive. Mut zu offenen Diskussionen, zu Bewegungsnähe – sich nicht vor dem schwierigen Fragen drücken, aus Angst, Mitglieder zu verlieren. Die Krisen sind in der Summe existenziell und es wird kein Zurück in die gute alte Zeit geben. Zumal es eine »gute« alte Zeit in diesem Sinne sowieso niemals für alle gab. Insofern können und sollten die aktuellen Diskurse um Identitätspolitiken und damit einhergehende Empowermentprozesse von den Gewerkschaften nicht ignoriert, sondern aktiv mitgeführt werden. Und vor allem im Hinblick auf ihre sinnvolle und notwendige Verknüpfung mit neuen Konzepten von Klassenpolitiken geprüft, ergänzt und gestaltet werden.

Sprache neu denken

Sich auf die eigenen Stärken besinnen und neue Stärken zu entwickeln, ist auch eine Frage der Kommunikation – nach innen wie nach außen. Framing meint das Setzen von Deutungsrahmen über Sprache; ein politisches Kampfmittel, das bislang am erfolgreichsten von der politischen Rechten genutzt wurde. Dieses Terrain sollte ihnen streitig gemacht werden. Denn Diskursstärke ist ebenso zentral wie Organisationsmacht. Zukunftsfähige Gewerkschaften müssen sprachsensibel sein, auf eine unkritische Übernahme von Arbeitgebersprache verzichten, Bürokrat:innen- und Funktionärssprech vermeiden und am Alltagswissen der Menschen anknüpfen, die sie adressieren. Über die Sprache, die eine Organisation wählt, transportiert sie ihre Haltung, ihr Wertesystem und ihr Verhältnis zur Gegenwart, zur Zeit. Und erzeugt diese gleichermaßen. Framing zielt darauf, die gesellschaftliche Macht der Organisation strategisch klug aufzubauen und einzusetzen. Dafür müssen zur richtigen Zeit die richtigen Themen gesetzt werden. Das gewerkschaftliche Selbstverständnis neu zu framen hat nicht nur eine kollektive Dimension, sondern meint auch jedes einzelne individuelle Selbstverständnis: Aktive Gewerkschafter:innen sind nicht nur Interessenvertreter:innen. Sie sind gleichermaßen Wissensvermittler:innen und Orientierungsmaßstäbe. Sie können Wahrnehmungen kontextualisieren und Erfahrungen politisieren. Sie können Utopien zur Diskussion stellen und damit echte Alternativen überhaupt erst denkbar machen.

Erschienen inside#6, das Bildungsmagazin der IG Metall