Ich bin Abonnent der Zeitschrift werben&verkaufen. Nichts, was sich der Öffentlichkeitsarbeiter im Betriebsrat ins Haus holt. Das verstehe ich auch. Manchmal lese ich Artikel, die ich extrem spannend finde. Ich übersetze das, was er in diesem Interview sagt, auf die Verbände und Vereine, für die ich arbeite. Nicht alles paßt, es gibt trotzdem sehr viele Anregungen. Finde ich. Erschienen in der w&v 06/2020.

Viele Marken agieren in sozialen Netzwerken extrem kurzsichtig. Philipp Maderthaner verrät, wie man Menschen für Marken mobilisieren kann.

Herr Maderthaner, Sie gelten als der Kanzlermacher in Österreich. Wie schafft man es, einem Kandidaten zum Sieg zu verhelfen?
Ich fühle mich mit der Bezeichnung Kanzlermacher nicht wohl. Jeder, der schon mal eine Wahlkampagne von innen erlebt hat, weiß, dass dies Werke sind, bei denen Tausende von Rädchen ineinandergreifen. Ich war eines dieser Rädchen. Das, was zählt, sind die drei C: Candidate, Cause und Campaign. Der Kandidat, das Anliegen und die Kampagne. Erst wenn alle drei Komponenten stimmen, entsteht das Potenzial zum Erfolg. Bei einem Ausnahmepolitiker wie Sebastian Kurz ist es nicht die Kampagne, die die Wahl gewinnt.

Ist es egal, ob man einem Politiker zum Wahlsieg verhilft oder einer Marke zur Absatzsteigerung?
Es gibt viele Gemeinsamkeiten. Ich habe keine klassische Marketingausbildung, sondern habe mein persönliches Kampagnen-Handwerk von der Pike auf in der Politik gelernt. Deshalb schaue ich auf Kampagnen anders als die meisten Marketer. Kampagnen sind weitaus mehr als nur Kommunikation. Wir fragen, ob Kampagnen es schaffen, Menschen zu bewegen. Eine Kampagne, an der Menschen teilhaben, ist schließlich erfolgreicher. 

Warum ist das so?
Menschen kaufen Überzeugungen – egal ob in der Wahlkabine oder am Ladentisch. Menschen kaufen Dinge, um auszudrücken, wer sie sind oder gerne sein möchten – und vor allem auch, um sich zugehörig zu fühlen. Das ist eines der tiefsten menschlichen Bedürfnisse überhaupt: Zugehörigkeit zu empfinden. Die Politik hat das perfektioniert, und wir übertragen das auf die Welt der Marken. 

Marken scheinen sich damit aber schwerzutun.
Weil sie sich oft nur über ihre Produkte definieren und nicht über die Überzeugungen und Haltungen dahinter. 

Der Begriff der Haltung wird im Marketing derzeit sehr häufig benutzt und eingefordert. Was verstehen Sie darunter?
Viele Unternehmen versuchen, mit Marketing über die eigenen Probleme hinwegzutäuschen. Ständig wird eine neue Sau durchs Dorf getrieben. Ich bin überzeugt davon, dass Unternehmen und Marken eine Haltung brauchen. Aber das ist etwas anderes als Mission-Statements an der Wand. Jede Haltung erfordert eine Transformation von innen heraus. Viele zäumen das Pferd von der falschen Seite auf. David Ogilvy hat gesagt: Nothing kills a bad product faster than good advertising. Die tollste Kampagne kann sogar schädlich sein, wenn das Unternehmen zur Botschaft keine Substanz aufweist. 

Haben Sie ein Beispiel?
Alle sprechen von Employer-Branding-Kampagnen. Aber gerade in der Coronakrise sehen wir, dass viele Unternehmen ihre Hausaufgaben in Sachen Unternehmensführung nicht gemacht haben. Da brechen Teams auseinander, weil keine innere Stärke vorhanden ist. 

Wie schafft man es, Menschen zu mobilisieren?
Das gemeinsame Anliegen, die gemeinsame Überzeugung, die gemeinsame Leidenschaft für oder manchmal auch gegen etwas ist die Grundvoraussetzung für das Entstehen eines Gefühls von Zusammengehörigkeit. Wo Gleichgesinnte aufeinandertreffen, entsteht Zugehörigkeit. Wenn Teilhabe möglich ist, wird dieses Gefühl verstärkt. Also wenn ich aktiv zum großen Ganzen beitragen kann. Dazu hilft es, Nähe zu erzeugen. Eine der großen Stärken sozialer Netzwerke und digitaler Plattformen liegt darin, dass sie uns ermöglichen, das knappe Gut Nähe in einer sehr skalierten Form darzustellen.

Sie sagen »Menschen kaufen Überzeugungen«. Das klingt schlüssig. Aber es setzt voraus, dass ich überhaupt weiß, welche Überzeugungen ich kommunizieren soll. 
Es geht ja nicht darum, den Menschen nach dem Mund zu reden. Leidenschaft schafft Anziehungskraft. Am Anfang steht die starke Überzeugung einer Unternehmerin oder eines Unternehmers. Darauf aufbauend muss man Gleichgesinnte identifizieren. Die Frage ist: Wer teilt diese Überzeugungen? Man muss Nutzen stiften. Sich wie ein Fähnchen nach dem Wind zu richten, bringt nichts. Am Anfang steht die starke Marke mit Mut und Entscheidungsfreude. Viele Unternehmen machen den Fehler, sich zu sehr nach ihrer Zielgruppe zu richten. Die großen Marken haben am Anfang ihrer Geschichte nicht das gesagt, was die Menschen hören wollten, sondern das, woran sie selbst geglaubt haben. Haltung schafft Loyalität. 

Auf Ihrer Webseite bieten Sie »vollumfängliche Community-Plattformen« an, »mit allem, was man sich für eine Kampagne wünschen kann«. Können Sie das konkretisieren?
Leidenschaft schafft Anziehungskraft. Und Anziehungskraft schafft Anhängerschaft. Das heißt: Viele Unternehmen sollten Türen öffnen, damit Menschen überhaupt in Kontakt treten und zu Anhängern werden können. Das ist in Zeiten von sozialen Netzwerken naheliegend. Aber das funktioniert auch über klassische Dialog-Instrumente wie E-Mail. Das wird total unterschätzt. Die E-Mail ist nach wie vor der stärkste Treiber für Mobilisierung, also die Aktivierung von Communitys. Damit haben wir die Möglichkeit, personalisiert und individualisiert auf unser Gegenüber einzugehen und damit eine völlig andere Form von Nähe zu erzeugen als in sozialen Netzwerken. Die E-Mail ist persönlich, Social Media dagegen ist Massenkommunikation. In erster Linie geht es darum, Menschen, die meine Überzeugung teilen, zu organisieren. Man muss die eigene Anhängerschaft ins Zentrum der Kommunikation stellen. Weniger über mich selbst sprechen, sondern mehr über die Teilhaber meiner Community. 

Gibt es Marken die zwar Follower haben, aber keine Community?
Ich würde fast sagen: die meisten. Viele Marken agieren in sozialen Netzwerken extrem kurzsichtig. Die meisten Unternehmen verstehen soziale Medien nach wie vor als Selbstbeweihräucherungsclubs. Ein Beispiel: Jede Marke wünscht sich, dass ihr Posting viral geht und von anderen verbreitet wird. Die Ansprüche dahinter sind groß. Die meisten Marken nutzen Social Media von Anfang an mit einer Erwartungshaltung. Sie möchten, dass andere etwas für sie tun. Das ist eine völlig falsche Haltung, wenn man Communitys aufbauen will. Die richtige Haltung für Communitys ist: Was kann ich für euch tun? 

Was raten Sie konkret einer Marke, die will, dass ihr Posting geteilt wird?
Dieses Posting sollte mehr über die Person aussagen, die es teilt, als über die Marke, die es bereitstellt. Wir müssen erkennen, dass Menschen keine Zwangsbeglückung mehr brauchen. Sie tun Dinge nur noch aus Überzeugung. Richte die Kommunikation im Community-Building darauf aus, denen Nutzen zu stiften, die etwas beitragen. Der Return on Investment – oder wie ich es nenne: der Return on Involvement – kommt dann schon. 

Braucht man Influencer, um eine Community aufzubauen?
Ich tue mich oft schwer mit dem vorherrschenden Influencer-Verständnis. Da ist vieles auf Sand gebaut, ohne Mehrwert. Aber wenn ich Influencer auf das reduziere, was sie im Kern sind, nämlich Multiplikatoren – dann sind sie absolut hilfreich. Wir Menschen haben uns schon immer organisiert. Früher in Stämmen, heute in Vereinen oder Verbänden – aber auch in Unternehmen. All das sind Organisationsformen, wo Menschen mit gemeinsamen Interessen zusammenfinden. Wenn ich als Marke eine Community zu einem bestimmten Thema aufbauen will, kann man davon ausgehen, dass die Menschen, die für diese Community relevant sind, heute schon irgendwo organisiert sind. Man muss nur herausfinden, wo. Diese Netzwerkknotenpunkte sollte ich dann als Multiplikatoren an Bord holen. 

Was ist wichtiger: Reichweite oder Authentizität?
Es beginnt mit Authentizität. Jede Authentizität hat Potenzial für Reichweite. Es gibt für alles Anhängerschaft. Es gibt Clubs für pinkfarbene Socken. Die haben vielleicht nicht das gleiche Potenzial wie die Klima-Bewegung. Aber auch sie haben Potenzial. 

Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einer Zielgruppe und einer Community?
Klassische Werbung ist aus der Kommunikationstheorie heraus entstanden. Im Zuge der Digitalisierung hat sich Technologie dazugemischt. An diesem Schnittpunkt sind Social-Media-Agenturen, Digitaldienstleister und dergleichen entstanden. Wir mischen eine dritte Komponente dazu: Die Organisationstheorie. Wie agieren Menschen im Kollektiv? Und welche Dynamiken entstehen daraus? Wenn du das miteinbeziehst, bist du auf der Ebene des echten Community-Aufbaus und kannst wirklich etwas bewegen. Wer Communitys nur durch die Kommunikationsbrille betrachtet, ist zumindest auf einem Auge blind. 

Mit psychografischem Targeting spielt man unterschiedliche Botschaften maßgeschneidert aus, basierend auf Psychogrammen von definierten Personas. Sehen Sie eine Art Standard-Set von Persönlichkeitsstrukturen in der Bevölkerung?
Im Prinzip geht es doch einfach darum, Menschen in ihrer Lebenswirklichkeit zu treffen, und sie nicht in soziodemografische Schubladen zu stecken. Das, was als psychografisches Targeting gehypt wird, ist für mich unspektakulär. Ich komme aus der Politik. Da ging es schon immer um gemeinsame Wünsche, Hoffnungen, Träume und Ängste. Dass dies nun für Konsummarken entdeckt wird, ist einfach nur vernünftig. Wichtig ist nicht, wer du bist, sondern, was du bereit bist, für die Kampagne zu tun. Wenn eine 80-jährige Oma und ein 16-jähriger Junge mit gleichem Herzblut für eine Sache brennen, warum sollte ich die unterschiedlich ansprechen? 

Was ist der häufigste Fehler, den Marken in der sozialen Kommunikation machen?
Ganz klar: Zu sehr an der Oberfläche zu kratzen. Wer nichts will und wer für nichts steht, muss sich nicht wundern, dass ihm niemand folgt. Das ist nicht nur metaphorisch zu nehmen. In sozialen Netzwerken gilt das auch wörtlich. Etwas, wozu ich sagen kann: Ja, ich bin dabei! – oder: Nein, ich bin nicht dabei – davor drücken sich die meisten. Wer die Tiefe in Angriff nimmt, ist erfolgreich.

Gelesen von Michael Rasch
Erschienen in der werben&verkaufen 06/2020
Foto aus der Sammlung Michael Rasch