Neurobiologische Weisheiten für die gesellschaftspolitische Kommunikation in Zeiten der Corona-Pandemie und für Betriebsräte im täglichen Kontakt mit der Belegschaft
Der Hirnforscher Gerhard Roth beklagt das Verhalten der Menschen in Pandemiezeiten und bestätigt kommunikationspsychologische Erkenntnisse, die für die Kommunikation zwischen Betriebsräten und Belegschaft von zentraler Bedeutung sind. Je rationaler Argumente vorgetragen werden und je stärker auf die Vernunft gesetzt wird, umso weniger besteht die Chance 60-70 Prozent der Menschen zu erreichen.
Aus kommunikationspsychologischer Perspektive steht zunächst die bewusste Trennung zwischen Sach- und Beziehungsebene in der zwischenmenschlichen Diskussion und Auseinandersetzung an erster Stelle, da die ständige Verquickung und Vermengung der beiden Ebenen für Missverständnisse und Konflikte verantwortlich ist – und für die meisten fehlgeschlagenen Lösungen und Klärungen.
Bei der Kommunikation mit der Belegschaft hingegen muss geprüft werden, ob die emotionale Ebene des Gegenübers angesprochen und erreicht wird
Zudem bestätigt Roth, dass 10-15 Prozent der Gesellschaft vernünftigen Argumenten überhaupt nicht zugänglich sind. Eine wichtige Erkenntnis für Betriebsrätinnen und Betriebsräte: bei diesem Teil der Belegschaft ist jeder Versuch von Überzeugung sinnlos und »verlorene Liebesmüh« – und generiert somit Zeit, um sich mit den erreichbaren 60-70 Prozent zu beschäftigen …
Spiegel: Herr Roth, was haben Sie über das Wesen des Menschen gelernt, seit das Corona Virus die Welt erobert hat?
Roth: Das vieles von dem, was zu befürchten war eingetreten ist: Viele Menschen sind von tiefsitzenden Motiven gesteuert, die wir irrational nennen, und zumindest in der Tendenz uneinsichtig.
Spiegel: Das klingt hart.
Roth: Es ist aber wohl so. Es gab in allen Phasen der Pandemie Warnungen von Experten, die aber auch von Politikern weithin nicht ernst genommen worden. Und so sind wir von einer Coronawelle in die nächste gerutscht. Im Grunde ist das nicht verwunderlich: Menschen haben Probleme damit, sich den neuen, unbekannten Situationen rational zu verhalten. Sie werden von ihren Ängsten, ihren Bedürfnissen und ihren subjektiven Erfahrungen beherrscht. Da kommt Vernunft, etwa wissenschaftliches Denken, kaum gegen an.
Spiegel: Wir dachten, dass den Menschen gerade seine Begabung zur Vernunft auszeichnet.
Roth: Mit vielen Kollegen und Kolleginnen untersuchen wir seit 40 Jahren, wie einzelne Menschen oder Gruppen mit Unsicherheit umgehen. Und es zeigt sich durchgängig, dass Ihr Verhalten unter diesen Bedingungen eher von ihren tiefen Gefühlen und impulsiven Reaktionen gesteuert wird als von ihrem Verstand. Es sind entwicklungsgeschichtlich die ältesten Muster, die dann aus der Tiefe unserer Persönlichkeit nach oben dringen: Der Mensch will überleben, er will dabei Schutz und Sicherheit. Und vor allem will er keine Angst haben müssen. Die Pandemie aber hat zusätzliche Ängste geschürt. Der evolutionär bewährte Reflex darauf ist Erstarren, Rückzug oder Angriff. Das kann im Extremfall zur Teilnahme an Anti-Corona-Demonstration führen oder zur Verweigerung.
Spiegel: Wo bleibt die Vernunft?
Roth: Die hat oft schlechte Karten. Entwicklungsgeschichtlich betrachtet, hat der Mensch den langfristig planenden Verstand so spät entdeckt, dass er ihn kaum als wesentlichen Maßstab für sein Handeln verinnerlicht hat. Der Verstand und später die Vernunft haben sich bei hoch entwickelten Tieren und bei Menschen als Werkzeuge entwickelt, mit denen sich Probleme lösen lassen. Aber sie befriedigen weder elementarer Bedürfnisse, noch geben sie soziale Sicherheit. Jeder Mensch trägt drei Logiken in sich, die sich in seinem Denken, Fühlen und Verhalten niederschlagen: Die biologische Logik des Überlebens und der Fortpflanzung, die soziale Logik und die Logik von Verstand und Vernunft. Aber wir lassen uns unterschiedlich stark davon beeinflussen – und verhalten uns entsprechend unterschiedlich.
Spiegel: Lässt sich das beziffern?
Roth: Von 100 Menschen sind etwa 20 vernünftigen Argumenten spontan zugänglich. 10-15 sind nicht zu erreichen, bei Ihnen überwiegen archaische Abwehrreflexe. Oder ihre frühkindlichen Prägungen waren so, dass Verstand und Vernunft immer zu kurz kamen. Die größte Gruppe, etwa 65-70 Prozent, verhält sich so, wie es die anderen Menschen um sie herum vorgeben. Sie sichern sich bei denjenigen ab, die ihnen nahe sind und die sie Sozialprojekten – etwa in Gesprächen, in denen man sich gegenseitig abfragt, was man von Masken tragen oder impfen hält. Und jene, die man für glaubwürdig hält, beeinflussen dann die eigene Meinung.
Aus: Der Spiegel, 11. Dezember 2021
Gefunden von: Axel Janzen
Foto: srf